Böses Spiel in Friesland - Kriminalroman
anders war!
Als sich die Flamme der Kerze aufrichtete, blickte ich auf die Uhr. Ich musste zum Dienst. Den Docht der Kerze löschte ich mit angefeuchteten Fingerkuppen, langte zur Schultasche und zog mir meinen Parka über. Der Schneefall hatte zugenommen. Die Flocken waren dichter, und durch die Straßen schob sich mühsam der Verkehr.
Zum ersten Mal nach langer Zeit pfiff ich ein Lied. Es war eine Melodie von Dvořák, die nicht allzu bekannt war, aber Erika und mich mit Erinnerungen verband. Die kalte Luft verließ in weißen Wölkchen meinen Mund.
Noch auf der Straße vor dem wuchtigen Schulgebäude hörte ich das Klingeln. Aus den Türen quollen mir Schülermassen entgegen. Ich war froh, dass ich heute keine Aufsicht hatte, denn für den schwerfälligen, korpulenten Schulleiter war es einfach anzuordnen, dass Schneeballschlachten auf dem Schulhof zu unterlassen seien. Aber jeder Kollege, der sich mutig den jungen Menschen, die den Schnee zu Geschossen formten, näherte, wurde im Handumdrehen zur beliebten Zielscheibe.
Meine mir enger vertrauten Kollegen, mehr eine Clique unter hundertvierzig Lehrkräften, sahen mich überrascht an, als ich das Lehrerzimmer betrat und ihren Tisch ansteuerte. Sie schoben mir einen Stuhl zu und gratulierten mir zu meiner Verwunderung zum Geburtstag. Hatten sie bemerkt, dass ich seit meiner Teestunde innerlich eine Veränderung durchlebt hatte?
Ich beteiligte mich an den salopp geführten Gesprächen und konnte wieder über die Witze lachen, die halfen, den Dienst an der Jugend aufzulockern. Der anschließende Unterricht verlief aufgeräumt und leicht. Auch meine Schüler und Schülerinnen verhielten sich munter und gelöst. Als Enno, der in dem dörflichen Vorland unserer Stadt wohnte und unser bester Leichtathlet war, meine Ergebnisse der Übungsaufgabe mit dem Taschenrechner in der Hand anzweifelte und grinsend sagte: »Ich habe eine neue Methode entdeckt!«, wusste ich, dass es seit Newton und Gauß für Enno hier nichts mehr zu entdecken gab, ließ mir aber von dem mittelmäßigen Mathematikschüler seine Lösungswege offenlegen. Ich fand schnell den Denkfehler und sagte: »Enno, wenn du das Abitur bestehen willst, dann wende bitte die Mathematik an, die ich hier vermittle und lass die ›Knöpfchendrückmethode‹ draußen.« Ich klopfte ihm verzeihend auf die Schulter und führte die Stunde zu Ende wie geplant.
Als die Schüler bereits die Klasse verlassen hatten, trug ich die Lerninhalte sorgfältig ins Klassenbuch ein, denn unser Direktor benutzte die Bücher als Wochenendfundgrube und liebte Bürokratie über alles. Ich klappte das grüne Buch zu, das meinen Dienst wie die Scheibe eines Fahrtenschreibers in einem LKW kontrollierte, und schritt ans Fenster.
Mein Blick reichte bis zu den Hochhäusern vor dem Deich des stillgelegten Hafenbeckens. Noch immer schneite es. Ich sah den zertretenen Schnee, der den Schulhof bedeckte. Auf dem Parkplatz standen nur noch wenige Autos. Mir fiel die Anmut eines Mädchens auf, das ihr langes Haar durch die Hände gleiten ließ, wobei sie zierlich den Kopf seitlich beugte. Es war gertenschlank, trug Jeans und Stiefel. Ich dachte an Erika, denn die Ähnlichkeit war auffallend.
Zu meiner Überraschung näherte sich Enno ihr. Ein Bild von Mann. Die breiten Schultern, der schlanke Körper und sein unverkennbarer gelöster Gang, der nicht übertrieben schlaksig wirkte. Das Mädchen ging ihm entgegen. Enno schlang seine Arme um ihren Oberkörper und küsste sie. Ich schaute nicht weg. Ich schämte mich nicht, den glücklichen jungen Menschen zuzuschauen. Ein schönes Paar!, dachte ich und mir wurde bewusst, dass ich heute fünfunddreißig Jahre alt geworden war.
Die jungen Leute schoben mit den Händen den Schnee von den Scheiben des Polos. Als Enno die Tür des Wagens aufschloss, verließ ich den Fensterplatz, nahm das Klassenbuch und schritt durch den langen Korridor, in den die Putzfrauen mit Reinigungsgeräten drangen. Ich hatte nicht gewusst, dass Enno ein Auto besaß.
Am Nachmittag besuchte ich Gregor, um noch mal mit ihm über unsere Ferienfahrt zu reden und mich für den Geburtstagsgruß zu bedanken. Er saß in seinem Büro, vor dem verschnörkelten Schreibtisch, an dem schon sein Vater gesessen hatte.
»Weißt du, Hajo, ich hatte mir vorgenommen, wenn ich die Praxis drangeben würde, all das nachzuholen, was ich aus beruflichen Gründen versäumen musste. Auf eine Bibliothek ungelesener Bücher, die nur zur Wohnungszierde
Weitere Kostenlose Bücher