BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
war. An der Wand gegenüber des Bettes hatte Maries Freund Chris lange Bretter aus dunklem Holz angebracht. Es beanspruchte die komplette Seite und war vollgestopft mit Büchern. Trotzdem konnten Marie und Lucy es nicht lassen, auf Flohmärkten oder in Antiquariaten weiter nach preiswerten Büchern zu stöbern und sie in ihren Besitz zu bringen. Sie hatten sich sogar gegen Jules durchgesetzt, und ein weiteres Bücherbord zierte nun eine Seite des Flures. Auch dort ließen sich neue Eroberungen nur noch mit viel gutem Willen unterbringen. Jules hatte sich bisher erfolgreich gegen ein Regal in ihrem Zimmer gewehrt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Chris auch hier würde Hand anlegen dürfen. Da waren Lucy und Marie sich einig.
Sie trat ans Fenster, ruckelte an dem Griff und schob es nach oben. Sofort drang der Lärm der Großstadt ins Zimmer. Dann ging sie in die Küche. Jules stellte gerade einen Blumenstrauß auf den Tisch.
»Gibt es was zu feiern?«, fragte Lucy.
»Eigentlich nicht«, sagte Jules. »Aber da, wo ich herkomme, scheint um diese Jahreszeit noch die Sonne. Hier muss man sich irgendwie anders aufmuntern.«
Obwohl Jules schon seit zwei Jahren in London lebte, hörte man noch deutlich ihren amerikanischen Akzent.
Jules und Tiger, ein weißer Kater, der es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht hatte, stammten aus Arizona. Jules hatte Lucy bei ihrer Ankunft erklärt, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, ohne den Kater, den sie im Alter von zehn Jahren geschenkt bekommen hatte, nach London zu gehen. Mittlerweile hatte das Tier sich genauso gut eingelebt wie sein Frauchen.
Lucy stellte sich ans Fensterbrett und begann Tiger zu streicheln. Sofort setzte ein behagliches Schnurren ein. Jules mühte sich ab, den Tisch zu decken. Alles an ihr wirkte zu groß. Ständig wedelte sie mit einem Körperteil herum und als sie Lucy, ohne sich zu ihr umzudrehen, ein paar Teller hinhielt, musste diese einige Verrenkungen vollführen, um danach greifen zu können. Sie platzierte den Kuchen auf einem davon und schob sich auf die Küchenbank, die unter dem kleinen Fenster stand. Tiger sprang ihr auf den Schoß.
Jules stellte zwei Tassen auf den Tisch und schaufelte frisch gemahlenen Kaffee hinein. Besser als nichts dachte Lucy und nahm sich vor, morgen neuen Instantkaffee zu besorgen. Der Kessel auf dem wuchtigen Gasherd begann zu pfeifen. Schwungvoll goss Jules das kochende Wasser in die Tassen. Mit viel Milch und Zucker schmeckte der Kaffee wider Erwarten gut, und Lucy begann, sich zu entspannen. Damit kam allerdings auch die Müdigkeit.
»Wie war es heute? Wieder eine Standpauke bekommen?«, fragte Jules.
»Ich war mal wieder zu spät«, berichtete Lucy zerknirscht.
»Und Mr. Barnes hat mich zur Strafe ins Archiv verbannt.«
Jules sah sie abwartend an.
»Das ist im Keller«, erklärte Lucy. »Dort wird alles aufbewahrt, was oben nicht reinpasst, und die ganz seltenen Exemplare, die nicht ausgeliehen werden dürfen und deren Benutzung nur im Lesesaal erlaubt ist.«
»Ok, und wie ist es da so?«, fragte Jules.
»Naja, es ist riesig, dunkel, ein bisschen muffig und Marie meint, dass es spukt.«
»Hat ein bisschen zu viele Bücher gelesen, die Gute, oder?«, fragte Jules verschmitzt.
Lucy zuckte mit den Schultern und rührte noch mehr Zucker in die schwarze dampfende Brühe.
»Ich habe mich ein bisschen umgesehen, und nachdem ich den ganzen Tag dort verbracht habe, muss ich zugeben – ein bisschen unheimlich ist es schon.«
Fragend sah Jules Lucy an.
»Mir ist etwas Merkwürdiges passiert«, erklärte Lucy zögernd.
»Kein Wunder, wenn du durch einen Keller schleichst«, erwiderte Jules mehr zu ihrem Kuchen als zu Lucy.
»Ich schleiche nicht«, widersprach Lucy.
Jules seufzte resigniert. »Ok, also, was ist Merkwürdiges passiert?«
»Miss Olive war nicht da, als ich nach unten kam. Also hab ich mich auf die Suche nach ihr gemacht.«
»Und da bist du allein rumgewandert?«, unterbrach Jules sie und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Na ja.« Lucy machte eine Pause, nicht sicher, was sie Jules erzählen sollte. »Es war nicht schlimm, schließlich brennt überall Licht. Nicht besonders hell, aber immerhin.«
»Wenigstens etwas«, brummte Jules.
»Das klingt jetzt abgefahren, aber es kam mir so vor, als würden die Bücher sich unterhalten. Da war immer so ein Wispern.«
Jules verschluckte sich an dem heißen Kaffee und begann zu husten. Lucy klopfte ihr vorsichtig auf den
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