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Biss der Wölfin: Roman

Biss der Wölfin: Roman

Titel: Biss der Wölfin: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Prolog
    W ährend Tom beobachtete, wie das Mondlicht von der vereisten Oberfläche des Sees reflektiert wurde, reflektierte auch er selbst: Die Welt brauchte wirklich mehr Schnee.
    Ja, natürlich, nach außen hin gaben sich die Leute besorgt über die Gefahren der Erderwärmung, machten alarmierte Geräusche und zeigten zu den Gletschern hinüber, die drüben in Kenai Fjords vor ihren Augen schrumpften. Doch insgeheim waren sie durchaus der Meinung, dass ein wärmeres Klima vielleicht auch sein Gutes hätte – vor allem um diese Jahreszeit, Ende März, nach einem monatelangen Winter in Alaska und mit dem Wissen, dass es noch wochenlang so bleiben würde.
    Tom dagegen mochte Schnee. Gottes Ajax nannte er ihn. Göttliches Scheuerpulver. Wenn mit dem Frühjahr das Tauwetter kam, würden dieser See und die Wiese ein einziger Morast sein, nichts als Matsch und Moskitos und dazwischen die verwesenden Kadaver sämtlicher Tiere, die es nicht durch den Winter geschafft hatten. Einige wenige Monate lang aber lag hier eine Wildnis von einer so makellosen Reinheit, wie kein Dichter sie besser hätte ersinnen können.
    Eine Fläche von ungebrochenem Weiß glitzerte unter einem halben Mond. Die Luft war so klar und kalt, als lutschte man ein Atembonbon, und die Nacht so still, dass Tom das Wühlen der Mäuse unter den Schneewehen und das Heulen von Wölfen in zehn Meilen Entfernung hören konnte.
    Tom mochte Wölfe, mochte sie sogar noch lieber als den Schnee. Wunderschöne, stolze Geschöpfe. Vollkommene Jäger, die lautlos wie Gespenster durch die Nacht glitten.
    Das erste Tier, das er jemals in einer Falle gefangen hatte, war ein Wolfsjunges gewesen. Er erinnerte sich noch daran, wie es in einer Aura aus Blut im frisch gefallenen Schnee gelegen hatte, die Lefzen nach hinten gezogen zu einem letzten trotzigen Fauchen, das Bein halb durchgebissen von seinen Versuchen, sich zu befreien. Selbst als Junge hatte Tom bereits den Trotz zu würdigen gewusst, den Willen, zu überleben. Als sein Dad ihm erklärt hatte, dass der Pelz für den Verkauf zu stark beschädigt war, hatte Tom seine Mutter gebeten, ihm Fausthandschuhe daraus zu machen.
    Die Handschuhe hatte er immer noch. Er hatte vorgehabt, sie seinem Sohn zu vererben, aber … na ja, mit seinen 46 Jahren war er zwar noch nicht zu alt, aber es gab hier oben ganz einfach nicht genug Frauen. Anchorage war wenigstens nicht so übel wie Fairbanks, doch als Fallensteller mit acht Jahren Schulbildung, der in einer Hütte dreißig Meilen außerhalb der Stadt lebte, sollte man trotzdem besser wie Brad Pitt aussehen, wenn man sich Hoffnungen auf eine Ehefrau machen wollte.
    Der Gesang eines weiteren Wolfsrudels mischte sich mit dem des ersten, und während Tom lauschte, fragte er sich, ob eins davon sein Rudel war, das Rudel, das einmal auf dieser Wiese zu Hause gewesen war. Über zwanzig Jahre hinweg hatte er auf Pelze von ihnen zählen können. Nicht viele – er stellte inzwischen keine Wolfsfallen mehr auf, sondern schoss Wölfe nur noch und achtete darauf, sich dabei an die Alten und die Kranken zu halten, wie es ein ordentlicher Beutegreifer tun sollte.
    Er hatte sie gehört, wenn er kam, um seine Fallen zu leeren; das Heulen war so nah, dass er das Jagdgewehr etwas fester packte, aber sie hatten ihn nie behelligt, hatten ihn einfach seinen Geschäften nachgehen lassen.
    Er hatte ihre Fährten gesehen, die sich im Schnee kreuzten und wieder kreuzten, und er hatte die Überreste ihrer Beute gefunden, abgenagt bis auf den letzten Knochen. Hin und wieder hatte er sogar einen kurzen Blick auf sie selbst werfen können, wenn sie lautlos zwischen den Bäumen hindurchglitten. Einmal, in einer Winternacht wie dieser, hatte er zugesehen, wie sie draußen auf dem Eis spielten, wie selbst die Altwölfe schlitterten und rollten wie die Welpen.
    Aber dann vor ein paar Monaten hatten sie das kleine Tal verlassen.
    Jetzt brach das ferne Wolfsgeheul ab, und plötzlich merkte Tom, wie still es war. Unnatürlich still. Die Leute redeten zwar immer über die Stille in der Wildnis von Alaska, aber jeder, der hier etwas Zeit verbrachte, wusste, es war absolut nicht still. Im Gegenteil – das ständige Rauschen von Wind und fließendem Wasser, das Trippeln von Füßen über und unter dem Schnee, das Rufen der Raubtiere und Schreien ihrer Beute. Gerade jetzt aber hätte Tom schwören können, dass selbst der Wind erstorben war.
    Und wenn man lang genug hier draußen gelebt hatte, dann wusste man

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