Briefe an eine Freundin
Sogar von kleinen Übeln bin ich frei. Das Alter erscheint mit den Jahren allmählich, aber mit einer Krankheit oder einem großen Unglücksfall, den nichts je wieder gut machen kann, plötzlich. Das letzte ist mein Fall gewesen.
Hätte ich den Verlust nicht erlitten, den ich erfahren, so möchte es noch mehrere Jahre so fortgedauert haben. Aber durch die große Änderung, welche dieser Verlust in mir hervorbringen mußte, und die mit jedem Tage nur fühlbarer wird, bei der plötzlichen Vereinzelung nach einem achtunddreißigjährigen gemeinschaftlichen Leben, und selbst in der Abwesenheit ununterbrochenen gemeinschaftlichen Denken und Empfinden, war es natürlich, daß die Änderung auch körperlich eintrat. Indes ist das sehr leicht zu ertragen, zumal solange die Gesundheit so unangegriffen wie bei mir jetzt bleibt. Ich kann daher, wenn Sie auch nicht immer darin einstimmen, nur dabei bleiben, daß mir das Alter lieb ist. Es ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen. Wenn ich durch einen Zauberstab machen könnte, daß ich die mir noch übrigen Jahre mit jugendlicher Kraft und Frischheit verleben, oder so wie jetzt bleiben könnte, so wählte ich das erste gewiß nicht. Die jugendliche Kraft und Frischheit paßt nicht zu greifenden Gefühlen, und diese in einem langen Leben erworbenen und erlangten Gefühle möchte ich doch für nichts auf Erden aufgeben. Was Sie von meiner Stimmung sagen, unterschreibe ich insofern, als sie allerdings eine seltene und den tiefsten und gerührtesten Dank erheischende Gabe des Himmels, nicht menschliches Verdienst ist.
Wenigstens rechne ich sie
mir
nicht zu. Ich verdanke sie größtenteils der, welche auch jetzt die unmittelbare Quelle derselben ist. Denn wenn man einem durchaus reinen und wahrhaft großen Charakter lange zur Seite steht, geht sie wie ein Hauch von ihm auf uns über. Ich würde mir selbst jenes Besitzes unwert erscheinen, wenn ich jetzt anders sein könnte, als innerlich in abgeschlossener Ruhe in der Erinnerung lebend, und äußerlich, wo sich die Gelegenheit darbietet, nützlich und wohltätig beschäftigt.
Ich wünsche, daß meine Briefe Sie ruhig, heiter stimmen, Ihnen wie eine Erholung, eine Erquickung erscheinen. Leben Sie herzlich wohl und rechnen Sie mit vertrauender Zuversicht auf meine ununterbrochene freundschaftliche Teilnahme. H.
Tegel
, den 6. bis 9. Mai 1830.
I ch sage Ihnen, liebe Charlotte, meinen herzlichen Dank für Ihren am 27. April abgegangenen Brief, den ich richtig empfangen habe. Mit meinem Befinden geht es sehr gut, und ich empfinde weder Folgen des nassen Frühjahrs noch des strengen Winters. Dennoch machen sich die Folgen im allgemeinen sehr fühlbar. Eine Menge von Leuten leiden hier an kaltem Fieber. Ich habe für den Sommer meine Lebensart etwas geändert. Ich stehe jetzt regelmäßig um sechs Uhr
auf. Dafür gehe ich aber auch immer vor, spätestens um Mitternacht zu Bett. Die Morgenstunden haben mehr Reiz für mich, und so schreibe ich Ihnen, liebe Freundin, heute in der Frühe. Es ist das erste, womit ich heute den Tag beginne. Auf meinen Schlaf hat weder das frühe noch späte Aufstehen einigen Einfluß. – – Die Nacht hat etwas unglaublich Süßes. Die heiteren Ideen und Bilder, wenn man solche haben kann, wie ich ehemals oft erfahren, nehmen einen sanfteren, schöneren, in der Tat seelenvollen Ton an, dabei ist es, als ob man sie inniger genösse, da in der Stille nichts, nicht einmal das Licht sie stört. Kummervolle und wehmütige Erinnerungen und Eindrücke sind dagegen auch milder und mehr von der Ruhe durchströmt, die jede Trauer leichter und weniger zerreißend macht. Man kann auch dem Kummer ruhiger nachhängen, und ein tiefes Gemüt sucht doch nicht den Kummer zu entfernen, am wenigsten zu zerstreuen, sondern sucht ihn so mit dem ganzen Wesen in Einklang zu bringen, daß er Begleiter des Überrestes des Lebens bleiben kann. Ich kann mich jetzt schon auf die langen Winternächte freuen und habe, was ich hier sage, im vorigen Winter oft erfahren. Bedenkt man auf der anderen Seite wieder, wie freudig und schön das Licht ist, so gerät man in ein dankbares Staunen, welch einen Schatz des Genusses und wahren Glückes die Natur allein in den täglichen Wechsel gelegt hat. Es kommt
nur darauf an, ein Gemüt zu haben, ihn zu genießen, und das liegt doch in jedes Menschen eigener Macht. Alle Dinge, die einen umgeben,
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