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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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gelb, und wenn man eine ganze Allee hinunter sieht, bemerkt man auch, daß die Bäume nicht mehr die Blätterfülle wie im Sommer haben. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit hingeht. Eine Woche, ein Monat sind vorbei, und ehe man sich umsieht, das ganze Jahr. Es scheint garnicht der Mühe wert, eine so alte und allgemein anerkannte Sache noch zu wiederholen. Allein mir ist es wirklich, als wäre mir diese Empfindung nie sonst in gleichem Grade lebendig gewesen. Es mag daher kommen, daß ich die Zeit mehr nach Arbeit als nach sonst einer Ausfüllung messe, und da ist mir immer
die Zeit, in der etwas zustande kommen soll, unzureichend zu demjenigen, was man darin erwartet. Kein Tag bringt ganz hervor, was er soll, und aus diesen Lücken der einzelnen Tage entsteht ein großes Defizit im ganzen. Ich habe darum den Winter nicht so ganz ungern, weil man doch, selbst in meiner, das ganze Jahr hindurch sehr ruhigen, mußevollen und freien Lage, immer im Winter mehr und angestrengter arbeitet.
    Sie erwähnen der neuesten unruhigen Auftritte. Seit Sie schrieben, haben sich diese sehr vervielfältigt und sind sogar in unsere Nähe gekommen. Es ist schmerzlich mit anzusehen, wie Leidenschaft, wilde Roheit und Übermut den Frieden bedrohen, dessen man so lange genoß. Indes wird sich auch das wieder beruhigen. Die Dinge der Welt sind in ewigem Steigen und Fallen und in unaufhörlichem Wechsel, und dieser Wechsel muß Gottes Wille sein, da er weder der Macht noch der Weisheit die Kraft verliehen hat, ihn aufzuhalten und ihn zum Stillstand zu bringen. Die große Lehre ist auch hier, daß man seine Kräfte in solchen Zeiten doppelt anstrengen muß, um seine Pflicht zu erfüllen und das Rechte zu tun, daß man aber für sein Glück und seine innere Ruhe andere Dinge suchen muß, die ewig unentreißbar sind.
    Leben Sie recht wohl, erhalten sie sich heiter und seien Sie meiner aufrichtigen und unveränderlichen Teilnahme versichert. H.
     
     
Tegel
, den 6. Oktober 1830.
     

    I ch habe, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 28. v. M. erhalten und danke Ihnen sehr dafür. Es war hier seit acht bis zehn Tagen außerordentlich schönes Wetter, ich habe es recht genossen und bin die Nachmittage meistenteils ganz draußen gewesen. Ich fahre fort so wohl und gesund zu sein, daß, wenn ich auch auf alles einzelne an mir acht geben wollte, ich nicht wüßte, worüber ich zu klagen hätte. Es ist vielleicht unrecht, das so zu preisen und das Schicksal gleichsam herauszufordern und gewissermaßen das Glück zu
berufen
. Größtenteils ist das Aberglaube, aber doch nicht ganz. Wenn das Rühmen mit etwas Gutem mit einer vermessenen, inneren Zuversicht oder mit großer und ängstlicher Bangigkeit vor dem Umschlagen verbunden ist, so schlägt es wirklich leicht um. Man nenne es eine Strafe Gottes, oder man glaube, daß es ein für allemal in der sittlichen Weltordnung so eingerichtet sei, daß das sich überhebende wieder gedemütigt werden muß, so ist die Sache nicht abzuleugnen. Die Erfahrung lehrt sie, sie liegt im Glauben aller uns bekannten Zeitalter und Nationen, viele haben sie in denkwürdigen Sprichwörten, auch in Erzählungen, überlieferten und erdichteten, niedergelegt. Auf mich findet das indes keine Anwendung. Ich spreche gegen Sie mein Wohlsein und meine Gesundheit aus, weil ich weiß, daß es Sie freut
und Ihnen eine Beruhigung ist und Trost, und weil das Aussprechen die natürliche Regung eines gegen das Schicksal dankbaren Gemüts, ja selbst ein Dank ist, ohne daß man etwas hinzufügt. Ich hege dabei keine Vermessenheit; ich habe, und gerade jetzt, wo viel Äußeres wankend werden kann, das klare Bewußtsein, daß alles, was jetzt die äußere Lage eines Menschen ruhig, sorgenlos, genußreich und selbst beneidenswert macht, sich, ohne daß man es ahnt, umwenden kann; viel leichter noch die Gesundheit in höheren Jahren. Ich habe aber darüber nicht die mindeste Ängstlichkeit. Ich genieße alles dankbar, was von außen kommt, aber ich hänge an nichts. Ich lebe durchaus nicht in Hoffnungen, und da ich nichts von der Zukunft erwarte, so kann sie mich auch nicht täuschen. Ich muß offenherzig gestehen, daß ich, wäre es auch unrecht, nicht an einer Hoffnung jenseits des Grabes hänge. Ich glaube an eine Fortdauer, ich halte ein Wiedersehen für möglich, wenn die gleich starke gegenseitige Empfindung zwei Wesen gleichsam zu einem macht. Aber meine Seele ist nicht gerade darauf gerichtet. Menschliche Vorstellungen möchte ich

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