Jäger und Gejagte
1
Lautlos pirscht sich der Tod an. Von Deckung zu Deckung, von Baum zu Strauch zu Senke. Im erlöschenden Licht der untergehenden Sonne ist sie ein vierbeiniges Phantom in blutrotem, schwarz gestreiftem Fell. Ihre Augen und Ohren, ihre Sinne, ihr ganzes Wesen, alles konzentriert sich auf das geweihtragende Geschöpf, kaum zehn Meter entfernt.
Das Geschöpf stutzt und wendet den Kopf. Es röhrt mißvergnügt. Weiß es Bescheid? Sieht es, wittert es?
Warten... Das Phantom erstarrt. Beobachten, wittern, lauschen. Vorwärtskriechen. Ohren flach angelegt. Schwanz abwärts gerichtet. Fast nah genug jetzt...
Noch ein Schritt...
Der Wald hat sich in seinen Wintermantel gehüllt, Schnee und Eis bedecken den Boden, und für einen flüchtigen Augenblick befindet sich die kalte klare Luft im trügerischen Zustand absoluter Stille.
Der Elch dreht sich schwerfällig um und schaut weg.
Das Phantom schießt durch das Unterholz, pflügt durch Schneewehen, springt, stürzt, wirft sich über einen umgestürzten Baumstamm. Sie ist nicht Tikki, nicht Striper. Sie ist 350 Kilogramm schwere, primitive, fleischfressende Wildheit. Sie ist die Inkarnation des Raubtiers.
Der Elch erkennt die Gefahr - hört, riecht, sieht sie kommen - und kämpft sich durch den Schnee, um zu fliehen, doch Tikki überwindet die Entfernung in Sekunden.
Und im letzten Augenblick wirft sich der Elch herum, um sich ihr zu stellen.
Tikki fintiert, weicht dem bedrohlichen Geweih aus, wirft sich gegen die Flanke des Elchs und schnappt im letzten, gnadenlosen Sprung nach dem Hals des Tieres.
Das ist ihr Todesgriff, ihr Tötungsbiß. Ihre Kiefer sind wie eine Stahlklammer, die den Hals des Elchs umschließt, Knochen bricht und Fleisch durchreißt, während sie das Tier obendrein noch mit ihren tödlichen Pranken bearbeitet. Der Elch wankt und geht unter ihrem Ansturm zu Boden. Seine kurzen, japsenden Atemzüge nehmen einen verzweifelten, stampfenden Rhythmus an, der die letzten Augenblicke seines Lebens begleitet.
Dann endet es. So, wie die Natur es beabsichtigt hat.
Blut tropft in den Schnee. Der Elchkadaver dampft in der kalten Luft. Der Geruch des Todes steigt auf. Tikki hebt die Nase, saugt den Geruch ein, schwelgt darin und knurrt mit gebleckten Zähnen aus tiefster Kehle. Ihre Instinkte sind befriedigt.
Das ist genau richtig. So, wie es sein sollte. Die richtige Art, die Dinge zu beenden. Sie ist eine Waffe der Natur, zur Jagd geboren, zum Töten geschaffen, genauso wie dieser Elch und alle anderen schwächeren Geschöpfe als Beute gedacht sind. Niemand, der sie in diesem Augenblick in ihrer natürlichen Gestalt sehen könnte, würde daran zweifeln. Niemand, am wenigsten sie selbst, würde bezweifeln, daß sie ein natürliches Recht auf das Geschöpf hat, das unter ihr liegt. Es ist ein bestimmender Augenblick, ein Beweis für alles, was sie je von sich geglaubt hat, und eine Zurückweisung aller menschlichen und metamenschlichen Dinge.
Zweibeiner. Sie kann sie jetzt nicht gebrauchen. Tatsächlich ist sie ohne sie sogar besser daran. Sie machen die Dinge kompliziert.
Hier in der Wildnis ist das Überleben ihre einzige Sorge.
Tikki betrachtet den toten Elch und senkt den Kopf, um ihn zu beschnüffeln. Der Elch ist groß, sogar größer als sie. Ihn durch diese verschneiten Wälder zu zerren, wird nicht leicht sein. Ein Jammer, daß sie keine andere Wahl hat.
Ihr Junges braucht Fleisch. Das Junge kann nicht zum Fleisch gehen, also muß das Fleisch zum Jungen kommen. Tikki hat drei Junge bekommen. Eines war aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht lebensfähig und starb kurz nach der Geburt. Das zweite wurde von Höllenhunden getötet, die Feuer atmeten - Hunden, die sie systematisch gejagt und abgeschlachtet hat. Das dritte, das kleinste aus dem Wurf, wurde von den Hunden verwundet und schien sich dann sehr langsam zu erholen. Seitdem hat sie es in der alten Hütte untergebracht, wo sie ihre Vorräte und Ausrüstung aufbewahrt. Dort ist es für andere Tiere unerreichbar und, in die Felle der toten Hunde eingewickelt, auch vor der Kälte geschützt.
Das Junge ist jetzt wieder gesund. Es wird kräftiger. Bald wird es groß und stark genug sein, um sie auf der Jagd zu begleiten, ihr aus der Deckung der Bäume und Sträucher zuzusehen, wie man Beute macht, die lautlosen Bewegungen, der plötzliche Angriff, der tödliche Biß... eben alles, was zum Beutemachen gehört. Das wird das Leben weniger schwierig machen.
Tikki könnte sich den
Weitere Kostenlose Bücher