Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
einen neuen Zustrom aller Lebenskräfte verursachen. Auch Sie, Sonitschka, sind so ein frühes Blümchen, das noch mitten im Schnee und Eis aufgesprossen ist und deshalb sein Lebenlang ein bißchen fröstelt, sich im Leben nicht heimisch fühlt und zarte Treibhauspflege braucht.
Über Ihren Rodin zu Weihnachten habe ich mich mächtig gefreut und hätte Ihnen gleich gedankt, wenn mir Mathilde nicht gesagt hätte, daß Sie in Frankfurt sind. Was mich besonders angenehm berührt hat, ist der Natursinn Rodins, seine Ehrfurcht vor jedem Gräslein im Felde. Das muß ein Prachtmensch gewesen sein: offen, natürlich, überströmend von innerer Wärme und Intelligenz; er erinnert mich entschieden an Jaurès. Mögen Sie meinen Broodcoorens? Oder kannten Sie ihn schon?Mich hatte dieser Roman sehr ergriffen; namentlich die landschaftlichen Schilderungen sind von höchster poetischer Kraft. Dem Broodcoorens scheint offenbar, genau wie dem De Coster, daß »über dem Lande Flandern« die Sonne viel herrlicher auf- und untergeht als über der sonstigen Erde. Ich finde, daß die Flamen alle in ihr Ländchen förmlich verliebt sind, sie beschreiben es nicht wie ein Stück schöne Erde, sondern wie eine strahlende junge Braut. Und auch in dem düster-tragischen Ende finde ich eine Verwandtschaft der Farben mit den grandiosen Bildern im Till Eulenspiegel, z. B. mit der Demolierung des öffentlichen Hauses. Finden Sie nicht auch, daß diese Bücher im Kolorit ganz an Rembrandt erinnern: das Dunkle der ganzen Bilder, gemischt mit einem funkelnden Altgoldton; der verblüffendste Realismus aller Details und doch das Ganze in eine märchenhafte Phantasieregion entrückt.
Im »Berl. Tageblatt« las ich, daß im Friedrich-Museum ein neuer großer Tizian hängt. Haben Sie ihn schon besucht? Ich gestehe, daß Tizian eigentlich nicht mein Freund ist, er ist mir zu geleckt und kalt, zu virtuos – verzeihen Sie, wenn das vielleicht eine Majestätsbeleidigung ist, aber ich kann nicht anders als meiner unmittelbaren Empfindung folgen. Trotzdem wäre ich glücklich, wenn ich jetzt ins Friedrich-Museum könnte, um den neuen Gast zu besichtigen. Haben Sie auch den Kaufmannschen Nachlaß gesehen, von dem man so viel Wesens gemacht hat?
Meine Lektüre sind jetzt verschiedene ältere Studien über Shakespeare aus den 60er und 70er Jahren, als man noch in Deutschland lebhaft über das ProblemShakespeare debattierte. Könnten Sie mir nicht aus der Kgl. Bibliothek oder aus der Reichstagsbibliothek beschaffen: Klein, Geschichte des italienischen Dramas; Schack, Geschichte der dramatischen Literatur in Spanien; Gervinus und Ulrici über Shakespeare? Wie stehen Sie selbst zu Shakespeare? Schreiben Sie bald! Ich umarme Sie und drücke Ihnen warm die Hand. Seien Sie ruhig und heiter, trotz alledem. Liebste Sonitschka, auf Wiedersehen!
Wann wollen Sie kommen?!
Sonjuscha, wollen Sie mir die Liebe tun: schicken Sie der Mathilde J. Hyazinthen von mir. Ich erstatte es Ihnen, wenn Sie hier sind.
Ihre Rosa.
Breslau, den 24. 3. 1918.
Meine geliebte Sonitschka, wie lange habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben und wie oft habe ich in dieser Zeit an Sie gedacht! Die »Zeitläufte« benehmen sogar mir zeitweilig die Lust zum Schreiben.... Wenn man jetzt zusammensein und, im Feld schlendernd, de omnibus rebus plaudern könnte, wäre es eine Wohltat, aber darauf ist gar keine Aussicht zur Zeit. Meine Beschwerde ist mit gründlicher Schilderung meiner Schlechtigkeit und Unverbesserlichkeit abgewiesen und ein Antrag, wenigstens auf kurzen Urlaub, desgleichen. Ich muß also wohl warten, bis wir die ganze Welt besiegen.
Sonjuscha, wenn ich längere Zeit von Ihnen keine Nachricht habe, lebe ich in dem Gefühl, daß Sie dort einsam, unruhig, verdrossen und verzweifelt herumflattern, wie ein vom Baume losgelöstes Blatt im Winde, und das tut mir sehr weh. Schauen Sie, jetzt beginnt wieder der Frühling, die Tage werden schon so hell und lang, und im Feld gibt es sicherlich schon viel zu sehen und zu hören! Gehen Sie doch viel hinaus, der Himmel ist jetzt so interessant und mannigfaltig mit den jagenden unruhigen Wolken, die noch nackte Kalkerde muß in dieser wechselnden Beleuchtung schön sein. Sehen Sie sich für mich an alledem satt.... Es ist das Einzige, was man nie im Leben überkriegt, was stets denselben Reiz der Neuheit hat und einem immer treu bleibt. Siemüssen auch unbedingt für mich in den Botanischen Garten gehen, um mir genau über etwas zu berichten.
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