Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)
Es geht nämlich in diesem Frühjahr etwas Merkwürdiges vor. Die Vögel sind alle um 1–1½ Monate zu früh angekommen. Die Nachtigall war schon am 10. März hier, der Wendehals, der erst Ende April kommt, lachte schon am 15. und sogar der Pirol, den man den »Pfingstvogel« nennt und der nie vor Mai kommt, flötet hier schon seit einer Woche vor Sonnenaufgang im Morgengrauen! Ich höre sie alle von weitem aus der Anlage des Irrenhauses. Ich weiß mir diesen verfrühten Heimgang gar nicht zu deuten und möchte wissen, ob dasselbe anderswo zu beobachten ist oder nur auf die Wirkung des hiesigen Irrenhauses zurückzuführen ist. Gehen Sie also in den Botanischen, Sonitschka, aber so in den Mittagsstunden bei sonnigem Tag, und belauschen Sie alles, um mir zu berichten. Das ist mir ja, neben dem Ausgang der Schlacht bei Cambrai, das Wichtigste auf Erden, eine wahre Herzensangelegenheit.
Wie schön sind die Bilder, die Sie mir schickten! Von Rembrandt braucht man ja kein Wort zu sagen. Bei Tizian war ich von dem Pferd noch mehr überwältigt als von dem Reiter; so viel wahrhaft königliche Macht und Vornehmheit in einem Tier ausgedrückt, hätte ich nicht für möglich gehalten, Aber das aller-, allerschönste ist das Frauenbildnis von Bartolomeo da Venezia (den ich übrigens gar nicht kannte). Welcher Rausch in den Farben, welche Feinheit der Zeichnung, welcher geheimnisvolle Zauber des Ausdrucks! Sie erinnert mich darin in irgendeiner unbestimmten Weise an die Mona Lisa. Sie haben mir mit diesen Bildern eine Fülle der Freude und des Lichts in die Zelle gebracht.
Das Buch von Hänschen (Hans Dieffenbach. Die Herausgeber) müssen Sie natürlich behalten; es schmerzt mich, daßalle seine Bücher nicht in
unsere
Hände kommen. Ich hätte sie Ihnen lieber als sonst wem gegeben. Haben Sie den Shakespeare einigermaßen zur Zeit erhalten? Was schreibt Karl, wann sehen Sie ihn wieder? Grüßen Sie ihn tausendmal von mir und sagen Sie ihm von mir: Ça ira – trotz alledem. Und seien Sie frisch und munter, freuen Sie sich über den Frühling: den nächsten werden wir schon zusammen verleben. Ich umarme Sie, Liebste. Fröhliche Ostern! Auch den Kindern viele Grüße!
Ihre Rosa.
Breslau, 2. 5. 18.
... Ich habe den Candide und die Gräfin Ulfeldt gelesen und mich über beides gefreut. Candide ist eine so köstliche Ausgabe, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, das Buch aufzuschneiden und es so gelesen habe; da es in halben Bogen gefaßt ist, ging das sehr gut. Diese boshafte Zusammenstellung aller menschlichen Erbärmlichkeiten hätte auf mich vor dem Kriege wahrscheinlich den Eindruck eines Zerrbildes gemacht, jetzt wirkt sie durchaus realistisch ... Zum Schluß erfuhr ich endlich, woher die Redensart stammt: » mais il faut cultiver notre jardin «, die ich selbst schon gelegentlich gebrauchte. Die Gräfin Ulfeldt ist ein interessantes Kulturdokument, eine Ergänzung Grimmelshausens.... Was machen Sie? Genießen Sie nicht den herrlichen Frühling?
Stets Ihre
Rosa.
Breslau, den 12. 5. 1918.
Sonitschka, Ihr Brieflein hat mich so erfreut, daß ich es gleich beantworten will. Sehen Sie, wieviel Genuß und Begeisterung Ihnen ein Besuch im Botanischen Garten verschafft! Warum gönnen Sie sich das nicht öfters?! Und auch ich habe etwas davon, wenn Sie mir Ihre Eindrücke gleich so warm und farbenreich schildern, ich versichere Sie! Ja, ich kenne die wunderbaren, rubinroten Kätzchen der blühenden Fichte. Sie sind so unwahrscheinlich schön, wie übrigens das meiste andere, wenn es in voller Blüte steht, daß man jedesmal den eigenen Augen nicht traut. Diese roten Kätzchen sind weibliche Blüten, aus denen dann die großen, schweren Zapfen werden, die sich umdrehen und nach unten hängen; daneben gibt es unscheinbare, fahlgelbe, männliche Kätzchen der Fichte, die den goldigen Staub verbreiten, – »Pettoria« kenne ich nicht, Sie schreiben eine Akazienart. Meinen Sie, daß sie ähnlich gefiederte Blättchen und Schmetterlingsblüten hat, wie die sogenannte »Akazie«? Sie wissen wahrscheinlich, daß der Baum, den man so landläufig nennt, gar keine Akazie sondern »
Robinia
« ist; eine wirkliche Akazie ist z. B. die Mimose; diese blüht allerdings schwefelgelb und duftet berauschend, aber ich kann mir nicht denken, daß sie im Freien in Berlin wächst, da es eine tropische Pflanze ist. In Ajaccio auf Korsika sah ich im Dezember auf dem Platz in der Stadt herrlichblühende Mimosen, riesige Bäume ...
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