Brüder und Schwestern
ersten Trauergäste, die nun bald den Berg heraufkommen mußten.
Ungewöhnlich weit oben in der Landschaft war der Friedhof angelegt worden, am Ende eines ungepflasterten, geröllbedeckten Weges, warum eigentlich? Willy fragte sich das bloß, um die Zeit herumzubringen, nicht aus ernsthaftem Interesse. Weil die Gräber somit dem Himmel ein bißchen näher waren und der Hölle ein bißchen ferner? Von Krumen bedeckt, die Toten, doch auch von Winden umspielt? Im Schacht, und trotzdem über den Köpfen der Lebenden? Oder weil schon die Gerber, die sich einst als erste unten an der Schorba niedergelassen und diese ebenso schnell nutzen wie fürchten gelernt hatten, fünf Meter breit nur, ihr Flüßchen, aber wehe, wenn es über die Ufer trat, weil sie also weise und fürsorglich einen Platz ausgesucht hatten, der niemals überschwemmt werden konnte? Brav, ihr Gerber, formulierte Willy im stillen. Aber nachdem ihm bewußt geworden war, daß in seinem Loben etwas Närrisches lag, lachte er kurz auf.
Ruth warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, ein schon empörter Blick war das, wie Willy durch ihren Schleier erkennen konnte.
Beide schauten pikiert ins Tal, von wo das Rauschen der Kleinstadt ertönte, jenes gleichförmige Summen, zu dem sich, wenn man nur weit genug weg steht, die Tausenden einzelnen Geräusche jeder Siedlung verklumpen: unrhythmisches Kirchturmläuten, zögerndes Treppenknarren, eine schallende Ohrfeige, ein Motorheulen, das Gepolter eines zusammenfallenden Holzstapels, Papierknüllen, das Reißen eines Strumpfbandes, Besteckklappern, Fahrradklingeln, Altfrauengemurmel.
Willy fröstelte jetzt langsam. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht gehüpft, so aber scharrte er mit seinen Füßen auf dem dreckigen Teppich brauner Nadeln, die ein Sturm von den nahebei stehenden Lärchen geweht hatte, wie verschüttete rostige Haarklammern lagen sie herum.
Derweil drang von unten, vom Wege, das unregelmäßige Klacken und Rasseln aufspringender und rollender Steine herauf. War demnach jemand im Anmarsch, sein in Bayern lebender Bruder Bernhard vielleicht? Das wurde auch Zeit, daß der nun eintrudelte und sich neben sie stellte zur Begrüßung all ihrer Gäste, der war wirklich längst überfällig.
Es tauchten zuerst Köpfe auf, dann Oberkörper, dann Rümpfe und Beine, wie in einem kleinen Puppentheater, wo der allmächtige Spieler seine Figuren nach und nach zum Vorschein bringt. Aber kein Bernhard zeigte sich, dies waren Achim Felgentreu, seine Mutter Clara und sein Sohn Jonas.
»Waas?« entfuhr es Matti, der mit Jonas so befreundet war wie einst, und noch immer, Willy und Achim; als ob die Väter ihnen neben diesem und jenem, als honorige Zugabe, auch ihre Freundschaft vererbt hätten.
Sein Ausruf der Anerkennung galt Jonasens Großmutter. Vor ein paar Jahren schon war sie infolge einer schweren Diabetes erblindet, in letzter Zeit aber hatte sie sich, wie Matti wußte, auch kaum noch fortbewegen können. Und trotzdem hatte sie sich hier heraufgeschleppt! Vor den Werchows angelangt, reckte sie, schwer atmend, das Kinn. Ihre Pupillen irrten umher wie zwei da und dort an die Bande schlagende Billardkugeln. Willy war es dann, der sie erlöste, indem er an sie herantrat und ihr mit belegter Stimme zuflüsterte: »Das ist so großartig, ich weiß gar nicht, wie ich dir …«
Sie hob schwerfällig den Arm und tatschte mit ihrer braunfleckigen Hand die Luft wie eine Bärin, die ein paar aufdringliche Fliegen zu verscheuchen versucht. Sie tatschte noch einmal, fand endlich Willys Wange, fuhr mit einer Zärtlichkeit, die weiß, daß nichts mehr auf sie folgt, dort entlang, bis sie mit ihren Fingerspitzen das kalte Gallert seines Ohrläppchens erreichte. Dann ließ sie die Hand wieder sinken und trippelte vorsichtig zwei, drei Schritte zurück.
Achim dagegen machte einen großen Schritt nach vorn, zu Willy hin. Einer klopfte dem anderen auf die Oberarme, und das wirkte doch recht seltsam, denn die Unterschiede in ihrem Äußeren waren nun noch stärker ausgeprägt als früher: Hier der kräftige, sportliche Willy – und da der schmächtige, windschiefe Achim, spacke Arme hatte der und ein schmales Gesicht, das von schnurgerade hängenden Haaren gerahmt war, von dünnen Gardinen, die zu flattern begannen, sobald ein Lüftchen ging.
Aber keine Zeit für Willy, sich Achim länger zu widmen, denn nun ging es Schlag auf Schlag; Marieluise Wehle und ihre Tochter Catherine kamen heran und wollten auch begrüßt
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