Sommersturm (German Edition)
1
„Alles,
mein lieber Junge“, schluchzte Tante Martha in mein Ohr, „alles tut mir so unendlich Leid .“ Dabei sprach sie so laut, dass jeder um uns
her es auch ja hören konnte. „Es ist so furchtbar, dass er tot ist.“
Ihr
Arm war so eng um meinen Hals geschlungen, dass ich kaum noch Luft bekam. Um
ein Haar wären ihre Tränen über mein Gesicht gelaufen. Nur mit Mühe konnte ich
mich befreien.
Ich
mochte Martha nicht besonders, obwohl sie eine Schwester meiner Mutter war, die
vor drei Jahren an Krebs gestorben war, ziemlich plötzlich, niemand hatte
gewusst, dass sie so krank war. Im Grunde konnte ich keins der sechs
Geschwister meiner Mutter besonders gut leiden. Da war es fast schon ein
Glücksfall, dass mein Vater Einzelkind war. Ihn hatten wir vor ein paar Stunden
unter die Erde des städtischen Friedhofs gebracht.
„Und
es ist besonders schlimm“, fuhr Martha mit belegter Stimme fort, „dass wir dich
nicht zu uns holen können, Julian. Es tut mir so unglaublich Leid. Nur, du
weißt ja selbst, wir haben einfach keinen Platz.“
Natürlich
wusste ich das. Sie hatte es mir während der letzten vierundzwanzig Stunden
mindestens hundert Mal erzählt. Früher war es mir allerdings ganz anders
vorgekommen, denn zusammen mit Kurt, ihrem Mann, bewohnte sie einen recht
großen, wenn auch hässlichen Neubau. Auch Martin, ihr einziges Kind, lebte
schon seit Jahren nicht mehr bei ihnen. Aber ehe ich zu Martha gezogen wäre,
hätte ich mich lieber aus dem Fenster gestürzt, also waren mir ihre Ausreden
egal, ich hatte sie mir noch nicht mal richtig
angehört.
Marthas
Gesicht kam meinem immer näher, es roch nach Vanille. Mir wurde speiübel, was
aber wohl weniger an Marthas Geruch lag als an meiner Verwirrung über den
Unfalltod meines Vaters, der mir noch tief in den Knochen steckte. Das ganze
Drumherum nahm ich dagegen wahr wie einen schlechten Film. Ich schaffte es
gerade noch zum Klo.
Als
ich mit dem Übergeben fertig war, klopfte es an der Tür. Ich wischte mir
gerade mit einem Stück Toilettenpapier den Mund ab, als es zum zweiten Mal
klopfte. Die Tür wurde geöffnet ohne dass ich „Herein“ gesagt hätte.
Ich
lag noch immer mehr auf dem Boden als dass ich saß und erkannte erst mal nichts
anderes als ihre schwarzen Pumps. Dann die Waden, die schlank waren und in
schwarzen Seidenstrümpfen steckten. Genau wie der Rest der Beine, der lang und
länger wurde, je weiter mein Blick nach oben wanderte. Dann endlich kam der
Rand des Rockes. Keine Sekunde zweifelte ich, wer hier vor mir stand.
Ausgerechnet! Die hatte mir hier gerade noch gefehlt. Tante Betty!
„Alles
in Ordnung?“ Sie beugte sich zu mir herunter, bis ihr Gesicht direkt vor meinem
schwebte. Ihre tiefroten Lippen leuchteten durch den Nebel um mich her. Mir
schien, als würde sie vorsichtig lächeln.
„Alles
in Ordnung“, zischte ich panisch, als meine Gedanken klarer wurden. „Du kannst
getrost wieder abschieben.“
Meine
Meinung von Tante Betty, der jüngsten Schwester meiner Mutter, war nicht
besonders hoch, obwohl ich sie eigentlich kaum kannte. Blitzschnell schoss ich
hoch, mir wurde gleich wieder schwindelig. Den beschmierten Fetzen Klopapier
spülte ich zusammen mit dem Auswurf in die Ewigen Jagdgründe der städtischen
Kanalisation.
Gerade
noch hatte ich gefroren, jetzt breiteten sich Schweißtropfen auf meiner Stirn
aus. Auf einmal begann sich das Badezimmer zu drehen. Es war wie die Fahrt auf
einem turboschnellen Karussell, im nächsten Augenblick riss mir jemand den
Boden unter den Füßen weg. Im Fallen sah ich das Bild meines Vaters vor mir,
gestochen scharf. Er schaute mich einfach nur an, seltsamerweise waren seine
Augen auch gleichzeitig die von Betty. Jedenfalls waren sie genauso grün wie
ihre und so groß, obwohl er eigentlich braune Augen gehabt hatte. Dann versank
alles in einem tiefschwarzen Dunstschleier, ich war ohnmächtig.
Als
ich aufwachte, konnte ich riechen, noch bevor ich etwas sah: einen süßen,
leichten Duft. Mein Oberkörper war weich und bequem gebettet. Ich fühlte mich
gar nicht mal schlecht, bis ich endlich realisierte, dass ich hier noch immer
auf den Badezimmerfliesen herumlag.
Ich
wollte aufspringen, aber Hände auf meinen Schultern hielten mich zurück. Zuerst
dachte ich: Mein Vater! Aber dann sah ich, dass es Frauenhände waren und wie
ein schwarzes Tuch flatterte die Erinnerung in meinen Kopf, dass er tot war.
Als ich den auffälligen Nagellack sah, dämmerte es mir:
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