Brunetti 03 - Venezianische Scharade
ein Transvestit war. Und eine Hure.«
»Aber es wird sich herausstellen, daß es nicht so war, Signora.«
»Wer einmal mit Schmutz beworfen wurde, Commissario, an dem bleibt immer etwas kleben. Die Leute denken gern schlecht von anderen, je schlimmer es ist, desto mehr freut es sie. Noch Jahre später werden sie sich, wenn Leonardos Name fällt, an das Kleid erinnern und ihren schmutzigen Gedanken freien Lauf lassen.«
Brunetti wußte, daß sie recht hatte. »Es tut mir leid, Signora.« Etwas anderes konnte er ihr nicht sagen.
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand kurz auf die seine. »Für die menschliche Natur kann sich niemand entschuldigen, Commissario. Aber ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl.« Sie zog die Hand wieder fort. »Gibt es sonst noch etwas?«
Brunetti verstand, daß er damit entlassen war, verneinte und ließ sie allein, allein in der abgedunkelten Wohnung.
In der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter über der Stadt, riß Ziegel von den Dächern, schleuderte Geranientöpfe auf die Straße, entwurzelte Bäume in den Parks. Es schüttete drei Stunden lang wie aus Kübeln, so daß die Regenrinnen überliefen und Müllsäcke in die Kanäle gefegt wurden. Auf den Regen folgte eine plötzliche Kälte, die in die Schlafzimmer kroch und die Schläfer zwang, sich aneinanderzukuscheln. Brunetti, der allein war, mußte gegen vier Uhr aufstehen und sich eine Decke aus dem Schrank holen. Er schlief bis kurz vor neun, beschloß dann, erst nach der Mittagspause in die Questura zu gehen, und zwang sich, wieder einzuschlafen. Nach zehn stand er auf, machte sich Kaffee und duschte lange, zum erstenmal seit Monaten froh über das warme Wasser. Er stand auf der Terrasse, schon angezogen, das Haar noch feucht, in der Hand die zweite Tasse Kaffee, als er aus der Wohnung hinter sich ein Geräusch hörte. Er drehte sich um, die Tasse an den Lippen, und sah Paola. Dann Chiara, und dann Raffaele.
»Ciao, papà«, rief Chiara begeistert und warf sich in seine Arme.
»Was ist denn passiert?« fragte er, während er sie an sich drückte, aber dabei nur ihre Mutter sah.
Chiara entzog sich ihm und grinste. »Sieh dir mal mein Gesicht an, papà.«
Er tat es, und nie hatte er ein hübscheres Gesicht gesehen. Er sah, daß sie viel in der Sonne gewesen war.
»Oh, papà, siehst du's denn nicht?«
»Sehe ich was nicht, Schätzchen?«
»Ich habe die Masern, und sie haben uns rausgeworfen.«
Obwohl die frühherbstliche Kühle in der Stadt blieb, brauchte Brunetti in dieser Nacht keine Decke.
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