Brunetti 03 - Venezianische Scharade
und dann sah er Brunetti an der Tür.
Seine Wut brach sich unvermittelt und vehement Bahn. »Was machen Sie hier? Ich habe dem Vice-Questore am Telefon gesagt, er soll Sie mir vom Hals halten. Hinaus, hinaus aus meinem Büro.« Bei seinen Worten trat die Sekretärin von ihrem Schreibtisch zurück und stellte sich an die Wand. »Hinaus«, brüllte Santomauro jetzt fast. »Ich lasse mich nicht derart belästigen. Ich lasse Sie...«, fing er an, brach aber ab, als hinter Brunetti ein anderer Mann ins Büro kam, ein Mann, den er nicht erkannte, ein kleiner Mann in einem billigen Baumwollanzug.
»Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, beide, gehen Sie in die Questura, wo Sie hingehören«, schrie Santomauro.
»Erkennen Sie diesen Mann wieder, Signor Gravi?« fragte Brunetti.
»Ja, Commissario.«
Bei diesen Worten hielt Santomauro inne, obwohl er den kleinen Mann in dem billigen Anzug noch immer nicht erkannte.
»Sagen Sie mir bitte, woher Sie diesen Mann kennen, Signor Gravi.«
»Das ist der Mann, der bei mir die Schuhe gekauft hat.«
Brunetti wandte sich von Gravi ab und sah zu Santomauro hinüber, der den kleinen Mann im billigen Anzug offenbar inzwischen erkannt hatte. »Und was waren das für Schuhe, Signor Gravi?«
»Ein Paar rote Damenschuhe. Größe einundvierzig.«
31
S antomauros Widerstand brach. Brunetti hatte dieses Phänomen schon oft genug beobachtet, um zu wissen, was sich da abspielte. Gravis Auftauchen in dem Moment, als Santomauro schon glaubte, über alle Gefahren triumphiert zu haben, nachdem die Polizei auf die Vorwürfe in Malfattis Geständnis nicht eingegangen war, kam so plötzlich und wie aus heiterem Himmel, daß Santomauro weder die Zeit noch die Geistesgegenwart hatte, sich eine plausible Geschichte zum Kauf der Schuhe auszudenken.
Zuerst hatte er Gravi angebrüllt, er solle sich aus seinem Büro scheren, aber als der kleine Mann darauf bestanden hatte, er würde Santomauro überall wiedererkennen und wisse genau, daß er diese Schuhe gekauft habe, ließ sich Santomauro seitlich gegen den Schreibtisch seiner Sekretärin sinken, die Arme um die Brust geschlungen, als glaubte er, sich so vor Brunettis stummem Blick und den fragenden Gesichtern der beiden anderen schützen zu können.
»Das ist der Mann, Commissario. Ich bin ganz sicher.«
»Nun, Avvocato Santomauro?« fragte Brunetti, wobei er Gravi mit einer Handbewegung zu schweigen gebot.
»Es war Ravanello«, sagte Santomauro mit hoher, gepreßter Stimme, offenbar den Tränen nah. »Es war seine Idee, alles. Das mit den Wohnungen und den Mieten. Er ist mit dieser Idee zu mir gekommen. Ich wollte nicht mitmachen, aber er hat mir gedroht. Er wußte von den Jungen. Er drohte, es sonst meiner Frau und meinen Kindern zu erzählen. Und dann hat Mascari die Sache mit den Mieten herausbekommen.«
»Wie?«
»Ich weiß es nicht. Über die Unterlagen der Bank. Irgend etwas im Computer. Ravanello hat es mir erzählt. Es war seine Idee, ihn aus dem Weg zu schaffen.« Für zwei Leute im Zimmer ergab das alles nicht den geringsten Sinn, aber sie schwiegen beide, wie gebannt von Santomauros panischer Angst.
»Ich wollte nichts unternehmen. Aber Ravanello meinte, wir hätten keine Wahl. Wir müßten es tun.« Seine Stimme war, während er sprach, immer leiser geworden, und nun hielt er inne und sah Brunetti an.
»Was mußten Sie tun, Signor Santomauro?«
Santomauro starrte Brunetti an und schüttelte dann den Kopf, wie um ihn nach einem schweren Schlag wieder klarzubekommen. Dann schüttelte er ihn noch einmal, aber diesmal eindeutig verneinend. Brunetti kannte auch diese Zeichen. »Ich nehme Sie hiermit fest, Signor Santomauro, wegen des Mordes an Leonardo Mascari.«
Bei dem Namen starrten Gravi und die Sekretärin Santomauro an, als sähen sie ihn zum erstenmal. Brunetti beugte sich über den Schreibtisch der Sekretärin und rief von ihrem Apparat aus bei der Questura an. Er bestellte drei Mann zum Campo San Luca, um einen Verdächtigen abzuholen und zum Verhör in die Questura zu bringen.
Brunetti und Vianello verhörten Santomauro zwei Stunden lang, und allmählich kam die ganze Geschichte heraus. Es war anzunehmen, daß Santomauro die Wahrheit sagte, soweit es die Einzelheiten des Planes anging, Profit aus den Wohnungen der Lega zu schlagen; nicht anzunehmen hingegen war, daß er wahrheitsgemäß sagte, wessen Idee es gewesen war. Er blieb dabei, alles sei Ravanellos Tun gewesen, der Banker sei mit einem fertig ausgearbeiteten Plan
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