Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Wohnung verließ. Obgleich der Weg zur Uni sie durchs moderne Venedig führte, spazierte sie im Geiste durchs New York des vorigen Jahrhunderts, die Kulisse, vor der die Lebensdramen der Frauen aus Whartons Romanen spielten. Bei dem Versuch, all die Untiefen zu umschiffen, die durch gesellschaftliche Etikette, die Kluft zwischen alteingesessener Aristokratie und neureichen Emporkömmlingen, die etablierte Vorherrschaft der Männer und die manchmal noch stärkere Macht der eigenen Schönheit und Anmut drohten, prallten ihre Heldinnen beständig gegen die unsichtbaren Klippen der Ehre. Leider konnte sich die moderne Gesellschaft nicht mehr auf eine allgemeingültige Vorstellung dessen, was ehrenhaftes Verhalten ausmacht, einigen.
Nicht, daß in Whartons Romanen die Ehre triumphiert hätte: In einem Fall kostete sie die Heldin das Leben; eine andere hatte ihr Glück an sie verloren; die dritte behauptete sich nur, weil sie zu unbedarft war, um zu ermessen, was auf dem Spiel stand. Wie sollte man angesichts einer solchen Bilanz die Fahne der Ehre noch hochhalten, zumal vor einem jungen Publikum, das sich allenfalls mit der dritten Romanfigur identifizieren würde - sofern die Studenten von heute überhaupt noch fähig waren, sich in Charaktere hineinzuversetzen, die nicht aus dem Kino stammten?
Die Stunde verlief ganz so, wie Paola es erwartet hatte, und am Ende hätte sie am liebsten aus der Bibel zitiert (einem Buch, für das sie ansonsten keine besondere Vorliebe hegte), und zwar die Stelle über jene, die weder sehen noch hören, obwohl sie doch Augen und Ohren haben. Aber sie verzichtete darauf, in der weisen Voraussicht, daß die Studenten auf den Psalmisten sicher genauso unempfänglich reagiert hätten wie auf Edith Wharton.
Einer nach dem anderen verließen die jungen Leute den Hörsaal, während Paola sich anschickte, ihre Bücher und Notizen einzupacken. Berufliche Fehlschläge setzten ihr nicht mehr so zu wie in der Zeit, als sie erstmals einsehen mußte, daß vieles von dem, was sie vortrug, und wahrscheinlich auch das, woran sie glaubte, ihren Studenten schlicht unverständlich war. In ihrem siebten Unterrichtsjahr hatte sie einmal einen Vergleich zur Ilias gezogen und angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit festgestellt, daß nur ein einziger Kursteilnehmer sich überhaupt erinnern konnte, sie gelesen zu haben. Und selbst der war außerstande, das antike Ideal der heroischen Tat nachzuvollziehen. Die Trojaner hatten doch verloren, nicht wahr, wen kümmerte es da noch, wie Hector die Niederlage ertrug?
»Die Zeit ist aus den Fugen«, murmelte sie auf englisch vor sich hin und fuhr überrascht zusammen, als sie merkte, daß jemand neben ihr stand, eine Studentin, die ihre professoressa jetzt vermutlich für verrückt hielt.
»Ja, Claudia?« fragte sie, halbwegs sicher, daß die junge Frau so hieß. Sie war klein, hatte dunkles Haar, dunkle Augen und einen so zarten milchweißen Teint, als käme nie ein Sonnenstrahl an ihr Gesicht. Sie hatte schon im Vorjahr ein Seminar bei Paola belegt, sich selten gemeldet, eifrig mitgeschrieben, die Klausur mit Sehr gut bestanden und bei Paola den vagen Eindruck einer intelligenten, aber durch ihre Schüchternheit gehemmten Person hinterlassen.
»Ich wollte fragen, ob ich Sie mal sprechen kann, Professoressa«, sagte das Mädchen.
Getreu dem Grundsatz, daß Sarkasmus nur gegenüber den eigenen Kindern erlaubt sei, unterdrückte Paola die Frage, ob sie das denn nicht bereits täte, klickte statt dessen ihre Aktenmappe zu und sagte dann, zu dem Mädchen aufblickend: »Sicher. Worüber denn? Edith Wharton?«
»Ja, auch, aber eigentlich geht es um etwas anderes.«
Wieder verbot sich Paola den Hinweis, daß nur eins von beidem zutreffen könne. »Und um was?« fragte sie, aber diesmal mit einem Lächeln, damit es dem sonst so schweigsamen Mädchen nicht gleich wieder die Sprache verschlug. Und um nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie es eilig habe, stellte sie die Mappe hin, lehnte sich mit dem Rücken ans Pult und lächelte wieder.
»Es handelt sich um meine Großmutter«, sagte das Mädchen und sah Paola so forschend an, als gelte es herauszufinden, ob sie wisse, was eine Großmutter sei. Ihr Blick schweifte zur Tür, zurück zu Paola und wieder zur Tür. »Ich hätte gern eine Antwort auf etwas, das ihr Kummer macht.« Hier stockte sie aufs neue.
Als Claudia keine Anstalten machte fortzufahren, nahm Paola ihre Mappe unter den Arm und ging langsam zum Ausgang.
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