Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
sie.«
»Und wenn nicht?«
»Dann telefonieren wir herum und sehen zu, ob eine Kollegin einspringen kann.«
»Und wenn nicht?«
Wie kam es, fragte er sich, daß das Frühstück unversehens in ein Verhör ausgeartet war. »Dann übernimmt die Befragung eben, wer gerade verfügbar ist.«
»Was vermutlich bedeutet, daß Männer wie Alvise oder Leutnant Scarpa so eine arme Frau vernehmen könnten.« Paola machte aus ihrer Empörung keinen Hehl.
»Es ist ja keine richtige Vernehmung, Paola, nicht so wie bei einem Verdächtigen.«
Sie zeigte auf II Gazzettino, und ihr Fingernagel klopfte in raschem Dreiertakt auf die zweite Schlagzeile. »In einer Stadt, wo 50 was möglich ist, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wie Befragungen gleich welcher Art ablaufen.«
Er wollte widersprechen, und vielleicht spürte Paola das, denn plötzlich fragte sie in völlig verändertem Ton: »Wie sieht's heute bei dir aus? Kommst du zum Mittagessen nach Hause?«
Brunetti wußte wohl, daß er mit einer positiven Antwort das Schicksal herausforderte. Aber die Erleichterung über ihr Einlenken war so groß, daß er alle Vorsicht in den Wind schlug. »Ich denke schon. Die Verbrecher scheinen Ferien zu machen in Venedig.«
»Gott, ich wünschte, das könnte ich von meinen Studenten auch sagen«, versetzte sie müde und resigniert.
»Aber Paola, du bist doch erst seit sechs Tagen wieder an der Uni.« Den Einwand konnte er sich nicht verkneifen. Wieso hatte eigentlich nur sie das Recht, über beruflichen Ärger zu klagen? Immerhin mußte er sich, wenn nicht tagtäglich, so doch erschreckend oft, mit Mord, Vergewaltigung und Misshandlungen herumschlagen, während sie in ihrem Hörsaal schlimmstenfalls gefragt wurde, wer sich hinter der Dark Lady verbarg, oder jemand vergessen hatte, wie Die Erbin vom Washington Square ausging. Er war schon drauf und dran, etwas in diesem Sinne zu erwidern, als er das Flackern in ihren Augen sah.
»Was ist los?« fragte er.
»Hm?«
Doch Brunetti hatte ein feines Ohr und einen geschulten Blick für Ausweichmanöver jeder Art. »Ich hab dich gefragt, was los ist.«
»Ach, Ärger mit den Studenten. Das Übliche.«
Wieder merkte er ihr an, daß es da irgend etwas gab, worüber sie nicht sprechen mochte. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, ging um den Tisch herum, bückte sich, die Hand auf ihre Schulter gestützt, und küßte sie auf den Scheitel.
»Wir sehen uns beim Mittagessen.«
»An diese Hoffnung werde ich mich klammern«, gab sie spöttisch zurück und beugte sich vor, um den verschütteten Zucker zusammenzustreichen.
Allein am Tisch zurückgeblieben, stand Paola vor der Wahl, entweder die Zeitung zu Ende zu lesen oder den Abwasch zu machen: Sie entschied sich für den Abwasch. Als sie damit fertig war, zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, dass ihre einzige Vorlesung an diesem Tag in weniger als einer Stunde begann, und sie lief ins Schlafzimmer, um sich fertig anzukleiden. In Gedanken war sie dabei, wie so oft, ganz bei Henry James, auch wenn es diesmal nur um seinen Einfluß auf Edith Wharton ging, deren Romane sie zur Zeit in ihrer Vorlesung behandelte.
Neulich hatte sie über das Thema Ehre gesprochen und über den Ehrenkodex als Leitmotiv der drei großen Wharton-Romane, auch wenn es ihr fraglich schien, ob der Begriff für ihre Studenten noch die gleiche Bedeutung hatte wie für die Autorin - ja, ob sie überhaupt noch etwas damit anfangen konnten. Darüber hatte sie an diesem Morgen mit Guido sprechen wollen, denn sie schätzte seine Meinung, aber dann war ihr die Schlagzeile dazwischengekommen.
Nach all den Jahren konnte sie nicht mehr so tun, als merke sie nicht, wie sehr ihre Kaffeepredigten ihn jedesmal verstörten: so sehr, daß er am liebsten fluchtartig den Tisch verlassen würde. Insgeheim schmunzelte sie über seine Wortschöpfung und über den liebevollen Ton, in dem er sie normalerweise damit hänselte. Sie wußte, daß sie auf bestimmte Reizthemen zu vehement und vorschnell reagierte; einmal hatte ihr Mann ihr in der Hitze des Gefechts eine erdrückende Litanei all der Themen an den Kopf geworfen, bei denen es angeblich so mit ihr durchging, daß nicht mehr vernünftig mit ihr zu reden sei. Und er hatte damit so ins Schwarze getroffen, daß der Gedanke an diese Aufzählung sie heute noch nervös machte.
Da sich am Vortag die erste herbstliche Kühle über die Stadt gelegt hatte, nahm Paola eine leichte Wolljacke aus dem Schrank, bevor sie ihre Aktentasche holte und die
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