Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
wollen und diese albernen Sachen erledigen – damit genug! Nun war er frei umhergegangen, hatte die Freude seines Herzens gepflegt, am Flügel geträumt und alle Widrigkeiten vergessen.
    Und dann war das Glück zur Wirklichkeit geworden. Es war über ihn gekommen mit seinen Weihen und Entzückungen, seinem heimlichen Erschauern und Erbeben, seinem plötzlichen innerlichen Schluchzen, seinem ganzen überschwänglichen und unersättlichen Rausche … Freilich, die billigen Gei {774} gen des Orchesters hatten beim Vorspiel ein wenig versagt, und ein dicker, eingebildeter Mensch mit brotblondem Vollbarte war im Nachen ein wenig ruckweise herangeschwommen. Auch war in der Nachbarloge sein Vormund Herr Stephan Kistenmaker zugegen gewesen und hatte gemurrt, daß man den Jungen auf solche Weise zerstreue und von seinen Pflichten ablenke. Aber darüber hatte ihn die süße und verklärte Herrlichkeit, auf die er lauschte, hinweggehoben …
    Und endlich war doch das Ende gekommen. Das singende, schimmernde Glück war verstummt und erloschen, mit fiebrigem Kopfe hatte er sich daheim in seinem Zimmer wiedergefunden und war gewahr geworden, daß nur ein paar Stunden des Schlafes dort in seinem Bett ihn von grauem Alltag trennten. Da hatte ihn ein Anfall jener gänzlichen Verzagtheit überwältigt, die er so wohl kannte. Er hatte wieder empfunden, wie wehe die Schönheit thut, wie tief sie in Scham und sehnsüchtige Verzweiflung stürzt und doch auch den Mut und die Tauglichkeit zum gemeinen Leben verzehrt. So fürchterlich hoffnungslos und bergeschwer hatte es ihn niedergedrückt, daß er sich wieder einmal gesagt hatte, es müsse mehr sein, als seine persönlichen Kümmernisse, was auf ihm laste, eine Bürde, die von Anbeginn seine Seele beschwert habe und sie irgendwann einmal ersticken müsse …
    Dann hatte er den Wecker gerichtet und geschlafen, so tief und tot, wie man schläft, wenn man niemals wieder erwachen möchte. Und nun war der Montag da, und es war sechs Uhr, und er hatte für keine Stunde gearbeitet!
    Er richtete sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttische. Da aber in der eiskalten Luft seine Arme und Schultern sofort heftig zu frieren begannen, ließ er sich rasch wieder zurücksinken und zog die Decke über sich.
    Die Zeiger wiesen auf zehn Minuten nach sechs Uhr … Ach, es war sinnlos, nun aufzustehen und zu arbeiten, es war zuviel, {775} es gab beinahe für jede Stunde etwas zu lernen, es lohnte nicht, damit anzufangen, und der Zeitpunkt, den er sich festgesetzt, war so wie so überschritten … War es denn so sicher, wie es ihm gestern erschienen war, daß er heute sowohl im Lateinischen wie in der Chemie an die Reihe kommen würde? Es war anzunehmen, ja, nach menschlicher Voraussicht war es wahrscheinlich. Was den Ovid betraf, so waren neulich die Namen aufgerufen worden, die mit den letzten Buchstaben des Alphabetes begannen, und mutmaßlich würde es heute mit A und B von vorn anfangen. Aber es war doch nicht unbedingt sicher, nicht ganz und gar zweifellos! Es kamen doch Abweichungen von der Regel vor! Was bewirkte nicht manchmal der Zufall, du lieber Gott! … Und während er sich mit diesen trügerischen und gewaltsamen Erwägungen beschäftigte, verschwammen seine Gedanken in einander, und er entschlief aufs Neue.
    Das kleine Schülerzimmer, kalt und kahl, mit seiner Sixtinischen Madonna als Kupferstich über dem Bette, seinem Ausziehtisch in der Mitte, seinem unordentlich vollgepfropften Bücherbort, einem steifbeinigen Mahagoni-Pult, dem Harmonium, und dem schmalen Waschtisch, lag stumm in dem wankenden Schein der Kerze. Eisblumen blühten am Fenster, dessen Rouleau nicht hinabgelassen war, damit das Tageslicht früher hereindringe. Und Hanno Buddenbrook schlief, die Wange in das Kissen geschmiegt. Er schlief mit getrennten Lippen und tief und fest gesenkten Wimpern, mit dem Ausdruck einer inbrünstigen und schmerzlichen Hingabe an den Schlaf, und sein weiches, hellbraunes Haar bedeckte gelockt seine Schläfen. Und langsam verlor das Flämmchen auf dem Nachttische seinen rotgelben Schein, da durch die Eiskruste der Fensterscheibe der matte Morgen starr und fahl ins Zimmer blickte.
    Als es sieben Uhr war, erwachte er wieder mit Schrecken. Nun war auch diese Frist abgelaufen. Aufstehen und den Tag {776} auf sich nehmen – es gab nichts, um das abzuwenden. Eine kurze Stunde nur noch bis zum Schulanfang … Die Zeit drängte, von den Arbeiten nun ganz zu schweigen. Trotzdem blieb er

Weitere Kostenlose Bücher