Buddenbrooks
äußerlichen Erlebnis ähnlicher Art angenommen hatten … Der alten Ida Verabschiedung schloß sich in seiner Anschauung folgerichtig den anderen Vorgängen des Abbröckelns, des Endens, des Abschließens, der Zersetzung an, denen er beigewohnt hatte. Dergleichen befremdete ihn nicht mehr; es hatte ihn seltsamer Weise niemals befremdet. Manchmal, wenn er seinen Kopf mit dem gelockten hellbraunen Haar und den immer ein wenig verzerrten Lippen erhob und die feinen Flügel seiner Nase sich empfindlich öffneten, war es, als schnuppere er behutsam in die Atmosphäre und Lebensluft, die ihn umgab, gewärtig, den Duft, den seltsam vertrauten Duft zu verspüren, den an der Bahre seiner Großmutter alle Blumengerüche nicht zu übertäuben vermocht hatten …
Immer, wenn Frau Permaneder bei ihrer Schwägerin vorsprach, zog sie ihren Neffen an sich, um ihm von der Vergangenheit und jener Zukunft zu erzählen, welche Buddenbrooks, nächst der Gnade Gottes, ihm, dem kleinen Johann, zu verdanken haben sollten. Je unerquicklicher die Gegenwart sich darstellte, desto weniger konnte sie sich genug thun in Schilderungen, wie vornehm das Leben in den Häusern ihrer Eltern und Großeltern gewesen und wie Hannos Urgroßvater vier {772} spännig über Land gefahren sei … Eines Tages erlitt sie einen heftigen Anfall von Magenkrampf, infolge davon, daß Friederike, Henriette und Pfiffi Buddenbrook einstimmig behauptet hatten, Hagenströms seien die Crême der Gesellschaft …
Über Christian lagen betrübende Nachrichten vor. Die Ehe schien sein Befinden nicht günstig beeinflußt zu haben. Unheimliche Wahnideen und Zwangsvorstellungen hatten sich bei ihm in verstärktem Maße wiederholt, und auf Veranlassung seiner Gattin und eines Arztes hatte er sich nunmehr in eine Anstalt begeben. Er war nicht gern dort, schrieb lamentierende Briefe an die Seinen und gab dem heftigen Wunsche Ausdruck, aus dieser Anstalt, in der man ihn sehr streng zu behandeln schien, wieder befreit zu werden. Aber man hielt ihn fest, und das war wohl das Beste für ihn. Jedenfalls setzte es seine Gemahlin in den Stand, unbeschadet der praktischen und ideellen Vorteile, die sie der Heirat verdankte, ihr früheres unabhängiges Leben ohne Rücksicht und Behinderung fortzuführen.
2.
Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam. Es war ein heiseres und geborstenes Geräusch, ein Klappern mehr als ein Klingeln, denn sie war altgedient und abgenutzt; aber es dauerte lange, hoffnungslos lange, denn sie war gründlich aufgezogen.
Hanno Buddenbrook erschrak zuinnerst. Wie jeden Morgen zogen sich bei dem jähen Einsetzen dieses zugleich boshaften und treuherzigen Lärmes, auf dem Nachttische, dicht neben seinem Ohre, vor Grimm, Klage und Verzweiflung seine Eingeweide zusammen. Äußerlich aber blieb er ganz ruhig, veränderte seine Lage im Bette nicht und riß nur rasch, aus irgend einem verwischten Morgentraume gejagt, die Augen auf.
Es war vollkommen finster in der winterkalten Stube; er {773} unterschied keinen Gegenstand und konnte die Zeiger der Uhr nicht sehen. Aber er wußte, daß es sechs Uhr war, denn er hatte gestern Abend den Wecker auf diese Stunde gestellt … Gestern … gestern … Während er mit angespannten Nerven, um den Entschluß kämpfend, Licht zu machen und das Bett zu verlassen, regungslos auf dem Rücken lag, kehrte ihm nach und nach Alles ins Bewußtsein zurück, was ihn gestern erfüllt hatte …
Es war Sonntag gewesen, und nachdem er sich mehrere Tage hinter einander von Herrn Brecht hatte maltraitieren lassen müssen, hatte er zur Belohnung seine Mutter ins Stadt-Theater begleiten dürfen, um den »Lohengrin« zu hören. Die Freude auf diesen Abend hatte seit einer Woche schon sein Leben ausgemacht. Beklagenswert war nur, daß stets vor solcherlei Festen soviel des Widerwärtigen lagerte und bis zum letzten Augenblick die freie und freudige Aussicht darauf verdarb. Aber endlich war doch am Sonnabend die Schulzeit überstanden gewesen, und die Tretmaschine hatte zum letzten Male in seinem Munde mit schmerzhaftem Summen gebohrt … Nun war Alles beiseite geschafft und überwunden gewesen, denn die Schulaufgaben hatte er kurz entschlossen jenseits des Sonntag-Abends geschoben. Was hatte der Montag bedeutet? War es wahrscheinlich gewesen, daß er jemals anbrechen würde? Man glaubt an keinen Montag, wenn man am Sonntag Abend den »Lohengrin« hören soll … Er hatte am Montag frühzeitig aufstehen
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