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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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noch liegen, voll von Erbitterung, Trauer und Anklage dieses brutalen Zwanges wegen, in frostigem Halbdunkel das warme Bett zu verlassen und sich hinaus unter strenge und übelwollende Menschen in Not und Gefahr zu begeben. Ach, noch zwei armselige Minuten, nicht wahr? fragte er sein Kopfkissen mit überquellender Zärtlichkeit. Und dann, in einem Anfall von Trotz, schenkte er sich fünf volle Minuten, um noch ein wenig die Augen zu schließen, von Zeit zu Zeit das eine zu öffnen und verzweiflungsvoll auf den Zeiger zu starren, der stumpfsinnig, unwissend und korrekt seines Weges vorwärts ging …
    Zehn Minuten nach sieben Uhr riß er sich los und fing an, sich in höchster Hast im Zimmer hin und her zu bewegen. Die Kerze brannte fort, denn das Tageslicht allein genügte noch nicht. Als er eine Eisblume zerhauchte, sah er, daß draußen dichter Nebel herrschte.
    Ihn fror über alle Maßen. Der Frost schüttelte manchmal mit schmerzhaftem Schauder seinen ganzen Körper. Seine Fingerspitzen brannten und waren so geschwollen, daß mit der Nagelbürste nichts anzufangen war. Als er sich den Oberkörper wusch, ließ seine beinah erstorbene Hand den Schwamm zu Boden fallen, und er stand einen Augenblick starr und hülflos da, qualmend, wie ein schwitzendes Pferd.
    Und endlich, mit gehetztem Atem und trüben Augen, stand er dennoch fertig am Ausziehtische, ergriff die Ledermappe und raffte die Geisteskräfte zusammen, welche die Verzweiflung ihm übrig ließ, um für die Stunden von heute die nötigen Bücher hineinzupacken. Er stand, sah angestrengt in die Luft, murmelte angstvoll: »Religion … Lateinisch … Chemie …« und stopfte die defekten und mit Tinte befleckten Pappbände zu einander …
    {777} Ja, er war nun schon ziemlich lang, der kleine Johann. Er war mehr als fünfzehnjährig und trug kein Kopenhagener Matrosenhabit mehr, sondern einen hellbraunen Jaquet-Anzug mit blauer, weiß gesprenkelter Kravatte. Auf seiner Weste war die lange und dünne goldene Uhrkette zu sehen, die von seinem Urgroßvater auf ihn gekommen war, und an dem vierten Finger seiner ein wenig zu breiten aber zartgegliederten Rechten stak der alte Erb-Siegelring mit grünem Stein, der nun ebenfalls ihm gehörte … Er zog die dicke, wollige Winterjacke an, setzte den Hut auf, riß die Mappe an sich, löschte die Kerze und stürzte die Treppe hinunter, ins Erdgeschoß, an dem ausgestopften Bären vorbei, zur Rechten ins Speisezimmer.
    Fräulein Clementine, die neue Jungfer seiner Mutter, ein mageres Mädchen mit Stirnlocken, spitzer Nase und kurzsichtigen Augen, war bereits zur Stelle und machte sich am Frühstückstische zu schaffen.
    »Wie spät ist es eigentlich?« fragte er zwischen den Zähnen, obgleich er es sehr genau wußte.
    »Viertel vor acht«, antwortete sie und wies mit ihrer dünnen, roten Hand, die aussah wie gichtisch, auf die Wanduhr. »Sie müssen wohl zusehen, daß Sie fortkommen, Hanno …« Damit setzte sie die dampfende Tasse an seinen Platz und schob ihm Brotkorb und Butter, Salz und Eierbecher zu.
    Er sagte nichts mehr, griff nach einer Semmel und begann, im Stehen, den Hut auf dem Kopfe und die Mappe unterm Arm, den Kakao zu schlucken. Das heiße Getränk that entsetzlich weh an einem Backenzahn, den gerade Herr Brecht in Behandlung gehabt hatte … Er ließ die Hälfte stehen, verschmähte auch das Ei, ließ mit verzerrtem Munde einen leisen Laut vernehmen, den man als Adieu deuten mochte, und lief aus dem Hause.
    Es war zehn Minuten vor acht Uhr, als er den Vorgarten passierte, die kleine rote Villa zurückließ und nach rechts die {778} winterliche Allee entlang zu hasten begann … Zehn, neun, acht Minuten nur noch. Und der Weg war weit. Und man konnte vor Nebel kaum sehen, wie weit man gekommen war! Er zog ihn ein und stieß ihn wieder aus, diesen dicken, eiskalten Nebel, mit der ganzen Kraft seiner schmalen Brust, stemmte die Zunge gegen den Zahn, der vom Kakao noch brannte, und that den Muskeln seiner Beine eine unsinnige Gewalt an. Er war in Schweiß gebadet und fühlte sich dennoch erfroren in jedem Gliede. In seinen Seiten fing es an zu stechen. Das Bißchen Frühstück revoltierte in seinem Magen bei diesem Morgenspaziergang, ihm ward übel, und sein Herz war nur noch ein bebendes und haltlos flatterndes Ding, das ihm den Atem nahm.
    Das Burgthor, das Burgthor erst, und dabei war es vier Minuten vor acht! Während er sich in kalter Transpiration, in Schmerz, Übelkeit und Not durch die Straßen

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