Buddenbrooks
Hause.
Hanno und Kai hatten denselben Weg, und bis zu der kleinen, roten Villa draußen in der Vorstadt gingen sie zusammen, ihre Bücher unterm Arm. Dann hatte der junge Graf Mölln noch eine weite Strecke bis zu dem väterlichen Wohnsitz allein zu wandern. Er trug nicht einmal einen Paletot.
Der Nebel, der am Morgen geherrscht hatte, war zu Schnee geworden, der in großen, weichen Flocken herniedersank und sich in Kot verwandelte. An der Buddenbrookschen Gartenpforte trennten sie sich; aber als Hanno schon den Vorgarten zur Hälfte durchschritten hatte, kam Kai noch einmal zurück und legte den Arm um seinen Hals. »Sei nicht verzweifelt … Und spiele lieber nicht!« sagte er leise; dann verschwand seine schlanke, verwahrloste Gestalt im Schneegestöber.
Hanno ließ seine Bücher auf dem Korridor in der Schale zurück, die der Bär vor sich hinstreckte, und ging ins Wohnzimmer, um seine Mutter zu begrüßen. Sie saß auf der Chaiselongue und las in einem gelb gehefteten Buche. Während er über den Teppich schritt, blickte sie ihm mit ihren braunen, nahe bei einander liegenden Augen entgegen, in deren Winkeln bläuliche Schatten lagerten. Als er vor ihr stand, nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und küßte ihn auf die Stirn.
Er ging in sein Zimmer hinauf, wo Fräulein Clementine ein wenig Frühstück für ihn bereit gestellt hatte, wusch sich und aß. Als er fertig war, nahm er aus dem Pulte ein Päckchen jener kleinen, scharfen russischen Cigaretten, die ihm ebenfalls nicht mehr unbekannt waren, und begann, zu rauchen. Dann setzte er sich ans Harmonium und spielte etwas sehr Schwieriges, Strenges, Fugiertes, von Bach. Und schließlich faltete er die {824} Hände hinter dem Kopf und blickte zum Fenster hinaus in den lautlos niedertaumelnden Schnee. Es gab da sonst nichts zu sehen. Es lag kein zierlicher Garten mit plätscherndem Springbrunnen mehr unter seinem Fenster. Die Aussicht wurde durch die graue Seitenwand der benachbarten Villa abgeschnitten.
za828.1Um vier Uhr wurde zu Mittag gegessen. Gerda Buddenbrook, der kleine Johann und Fräulein Clementine waren allein. Später traf Hanno im Salon die Vorbereitungen zum Musizieren und erwartete am Flügel seine Mutter. Sie spielten die Sonate Opus 24 von Beethoven. Bei dem Adagio sang die Geige wie ein Engel; aber Gerda nahm dennoch unbefriedigt das Instrument vom Kinn, betrachtete es mißmutig und sagte, daß es nicht in Stimmung sei. Sie spielte nicht weiter und ging hinauf, um zu ruhen.
Hanno blieb im Salon zurück. Er trat an die Glasthür, die auf die schmale Veranda führte, und blickte ein paar Minuten lang in den aufgeweichten Vorgarten hinaus. Plötzlich aber trat er einen Schritt rückwärts, zog heftig den crêmefarbenen Vorhang vor die Thür, sodaß das Zimmer in einem gelblichen Halbdunkel lag, und ging in Bewegung zum Flügel. Dort stand er abermals eine Weile, und sein Blick, starr und unbestimmt auf einen Punkt gerichtet, verdunkelte sich langsam, verschleierte sich, verschwamm … Er setzte sich und begann eine seiner Phantasieen.
Es war ein ganz einfaches Motiv, das er sich vorführte, ein Nichts, das Bruchstück einer nicht vorhandenen Melodie, eine Figur von anderthalb Takten, und als er sie zum ersten Mal mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, in tiefer Lage als einzelne Stimme ertönen ließ, wie als sollte sie von Posaunen einstimmig und befehlshaberisch als Urstoff und Ausgang alles Kommenden verkündigt werden, war gar nicht abzusehen, was eigentlich gemeint sei. Als er sie aber im Diskant, in einer {825} Klangfarbe von mattem Silber, harmonisiert wiederholte, erwies sich, daß sie im Wesentlichen aus einer einzigen Auflösung bestand, einem sehnsüchtigen und schmerzlichen Hinsinken von einer Tonart in die andere … eine kurzatmige, armselige Erfindung, der aber durch die preziöse und feierliche Entschiedenheit, mit der sie hingestellt und vorgebracht wurde, ein seltsamer, geheimnis- und bedeutungsvoller Wert verschafft ward. Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, wie als sei eine Seele voll Unruhe über das, was sie vernommen und was doch nicht verstummen wollte, sondern in immer anderen Harmonieen, fragend, klagend, ersterbend, verlangend, verheißungsvoll sich wiederholte. Und immer heftiger wurden die Synkopen, ratlos umhergedrängt von hastigen Triolen; die Schreie der Furcht jedoch, die hineinklangen, nahmen Gestalt
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