Buddenbrooks
Man könnte damit vor den lieben Gott oder Herrn Marotzke hintreten und es ihnen auseinandersetzen. Was würde geschehen? Sie würden es als Beleidigung nehmen und dich wegen Unbotmäßigkeit vernichten, während du doch eine sehr viel höhere Meinung von ihrem Beruf an den Tag gelegt hättest, als sie selber besitzen können … Na, laß sie, komm, es sind lauter Nashörner.«
Sie gingen auf dem Hofe spazieren, und Hanno horchte wohlgefällig auf das, was Kai zum Besten gab, um ihn seinen Tadel vergessen zu lassen.
»Sieh, hier ist eine Thür, eine Hofthür, sie ist offen, da draußen ist die Straße. Wie wäre es, wenn wir hinausträten und ein bißchen auf dem Trottoir umhergingen? Es ist Pause, wir haben noch sechs Minuten; und wir könnten ja pünktlich zurückkehren. Aber die Sache ist die: es ist unmöglich. Verstehst du das? Hier ist die Thür, sie ist offen, es ist kein Gitter davor, nichts, kein Hindernis, hier ist die Schwelle. Und dennoch ist es unmöglich, schon der Gedanke ist unmöglich, auch nur auf eine Sekunde hinauszutreten … Nun, sehen wir davon ab! Aber nehmen wir ein anderes Beispiel. Es wäre gänzlich verkehrt, zu {819} sagen, daß die Uhr jetzt ungefähr halb zwölf ist. Nein, es kommt jetzt die Geographie-Stunde an die Reihe; so verhält es sich! Nun frage ich aber Jedermann: ist dies ein Leben? Alles ist verzerrt … Ach, Herr Gott, wollte die Anstalt uns erst aus ihrer liebenden Umarmung entlassen!«
»Ja, und was dann? Nein, laß nur, Kai, dann wäre es auch noch so! Was soll man anfangen? Hier ist man wenigstens aufgehoben. Seit mein Vater tot ist, haben Herr Stephan Kistenmaker und Pastor Pringsheim es übernommen, mich tagtäglich zu fragen, was ich werden will. Ich weiß es nicht. Ich kann nichts antworten. Ich kann nichts werden. Ich fürchte mich vor dem Ganzen …«
»Nein, wie kann man so verzagt reden! Du mit deiner Musik …«
»Was ist mit meiner Musik, Kai? Es ist nichts damit. Soll ich umherreisen und spielen? Erstens würden sie es mir nicht erlauben, und zweitens werde ich nie genug dazu können. Ich kann beinahe nichts, ich kann nur ein bißchen phantasieren, wenn ich allein bin. Und dann stelle ich mir das Umherreisen auch schrecklich vor … Mit dir ist es so anders. Du hast mehr Mut. Du gehst hier herum und lachst über das Ganze und hast ihnen etwas entgegenzuhalten. Du willst schreiben, willst den Leuten Schönes und Merkwürdiges erzählen, gut, das ist etwas. Und du wirst sicher berühmt werden, du bist so geschickt. Woran liegt es? Du bist lustiger. Manchmal in der Stunde sehen wir uns an, wie vorhin einen Augenblick, bei Herrn Mantelsack, als Petersen unter Allen, die abgelesen hatten, einen Tadel bekam. Wir denken dasselbe, aber du schneidest eine Fratze und bist stolz … Ich kann das nicht. Ich werde so müde davon. Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai! … Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen. Ich will nicht einmal berühmt werden. Ich habe Angst davor, genau, als wäre ein Unrecht dabei! Es kann nichts aus mir {820} werden, sei sicher. Neulich, nach der Konfirmationsstunde hat Pastor Pringsheim zu Jemandem gesagt, man müsse mich aufgeben, ich stammte aus einer verrotteten Familie …«
»Hat er das gesagt?« fragte Kai mit angespanntem Interesse …
»Ja, er meint meinen Onkel Christian damit, der in Hamburg in einer Anstalt sitzt. – Er hat sicher Recht. Man sollte mich nur aufgeben. Ich wäre so dankbar dafür! … Ich habe so vielerlei Sorgen, und Alles fällt mir so schwer. Nehmen wir an, ich schneide mich in den Finger, thue mir irgendwo weh … es ist eine Wunde, die bei einem Anderen in acht Tagen geheilt wäre. Bei mir dauert es vier Wochen. Es will nicht heilen, es entzündet sich, es wird schlimm und macht mir unmäßige Beschwerden … Neulich sagte mir Herr Brecht, um meine Zähne sähe es jämmerlich aus, fast Alle seien schon unterminiert und verbraucht, nicht zu reden von denen, die ausgezogen sind. So steht es jetzt. Und womit werde ich beißen, wenn ich dreißig, vierzig Jahre alt bin? Ich habe gar keine Hoffnung …«
»So«, sagte Kai und schlug eine schnellere Gangart an; »nun erzählst du mir ein bißchen von deinem Klavierspiel. Ich will nämlich jetzt etwas Wunderbares schreiben, etwas Wunderbares … Vielleicht fange ich nachher in der Zeichenstunde an. Willst du heute Nachmittag spielen?«
Hanno schwieg einen Augenblick. Etwas Trübes, Verwirrtes und Heißes
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