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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Geographic, während meine Brüder und ich Mühe hatten, gegen den Schlaf anzukämpfen, worin wir allerdings immer wieder kläglich scheiterten. Endlich, endlich schlug die Uhr Mitternacht, und kaum war der letzte Glockenschlag verhallt, ertönte von der Stadt her ohrenbetäubendes, kakophonisches Scheppern von Töpfen und Pfannen, die aneinandergeschlagen wurden. Wir stellten uns im Kreis auf, fassten uns an den Händen und sangen alle zusammen das traditionelle Silvesterlied Auld Lang Syne. Die Worte verstand ich kaum, aber die Melodie war wunderschön. Ich ließ meinen Blick an den Gesichtern meiner Lieben vorüberschweifen und dachte an all das Gute, das mir im vergangenen Jahr widerfahren war. Ich sah Mutter und Vater an, die Hand in Hand dastanden, müde, aber glücklich. An Mutters Schläfe entdeckte ich ein paar graue Haare, die mir nie zuvor aufgefallen waren. Mein Blick wanderte weiter zu Harry: stolz, groß, gut aussehend, Kragen und Krawatte makellos, ein angehender junger Gentleman. Neben ihm standen Sam Houston, Lamar, Travis (mit Jesse James im Arm), der gähnende Sul Ross und natürlich Jim Bowie, der fast im Stehen einschlief und sich doch tapfer alle Mühe gab, das neue Jahr zu begrüßen.
    Und dann war da noch mein Großvater, der mit seinem tiefen Bariton zur Harmonie der traurigen, zu Herzen gehenden Melodie beitrug. Sein langer Bart schimmerte im Schein des Kaminfeuers. Fast hätten wir uns verpasst, er und ich – und nun war er für mich zum größten Geschenk überhaupt geworden.
    Der Lärm der Töpfe und Pfannen verhallte langsam, und auch unser Lied endete. Alle gingen mit müden Schritten in ihre Zimmer, um sich endlich schlafen zu legen, außer Mutter und Vater, die noch eine Weile aufblieben.
    Ich zog mein wärmstes Nachthemd an, das aus rotem Flanell, und verschwand mit einem Satz unter meiner Bettdecke. Zum Glück hatte SanJuanna die Laken mit einer heißen Bettflasche vorgewärmt und so die ärgste Kälte vertrieben. Ich beschloss, noch eine Weile wach zu liegen und die Bilanz meines bisherigen Lebens zu ziehen – das tat man doch schließlich am Ende eines Jahrhunderts, nicht wahr? Allerdings glaube ich, dass ich sofort eingeschlafen bin und nur im Traum Bilanz gezogen habe.

 
     
     
    Achtundzwanzigstes Kapitel
     
    1900
     
    Die Wirkung des Klimas scheint beim ersten Anblick ganz unabhängig vom Kampf ums Dasein zu sein; insofern aber das Klima hauptsächlich die Nahrung vermindert, veranlasst es den heftigsten Kampf zwischen den Individuen …
     
     
    Ich erwachte mit einem Gefühl der Panik. Irgendetwas stimmte nicht mit der Welt, irgendetwas Schreckliches musste in der Nacht geschehen sein, das spürte ich bis ins Mark. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich dahinterkam, was genau anders war als sonst: Im Haus und vor meinem Fenster herrschte tiefes, unnatürliches Schweigen, es fühlte sich an, als hätte die ganze Welt zusammengepackt und sich über Nacht fortgestohlen. War es das? War dies das Ende der Welt? Sollte ich auf die Knie fallen und beten?
    Auch das Licht war völlig fremd. Das Licht, das an den Vorhängen vorbei ins Zimmer fiel, kam mir nicht wie Licht vor, eher wie die Abwesenheit des Lichts. Jeder Gegenstand in meinem Zimmer schien verändert – grau, matt.
    Dann bellte Ajax, nur ein Mal, und auch wenn sein Bellen ebenso gedämpft und matt war wie das Licht, so war es doch beruhigend. Was mich dann von meiner Panik ablenkte, war die Erkenntnis, dass meine Blase kurz davor schien zu platzen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, den Nachttopf zu benutzen, doch zuerst musste ich mich dem Grauen stellen, das mich draußen erwartete. Ich dachte darüber nach und entschied, dass es sehr viel vernünftiger sei, sich dem Grauen mit leerer Blase zu stellen. Andererseits würde der Nachttopf aus Porzellan schrecklich kalt sein. Ich wägte beides gegeneinander ab, doch schließlich hangelte ich unter dem Bett nach dem Topf und schaffte es einigermaßen, über dem eisigen Rand zu balancieren.
    Danach ging es mir besser. Nun konnte ich mich daranmachen, dem Grauen da draußen ins Gesicht zu sehen.
    Entschlossen stellte ich mich vors Fenster, drückte die Schultern in bester militärischer Haltung durch, atmete noch einmal tief durch und zog dann mit einem Ruck die Vorhänge auseinander.
    Und da sah ich es: Eine vollkommene weiße Decke lag über allem – dem Rasen, den Bäumen, der Straße, so weit das Auge reichte, noch absolut unberührt und in völliger Stille.

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