Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
möglich machte, um hindurchzukommen. Sobald ich am Fluss angekommen war, zog ich mich bis auf mein Unterkleid aus, und gleich darauf ließ ich mich auf dem Rücken treiben und genoss die Kühle des Wassers. Mein Hemd blähte sich in der leichten Strömung, ich war eine Wolke im Fluss, die sich sanft in den Strudeln drehte. Über mir, in den dunkelgrünen Kronen der Eichen, die sich über den Fluss neigten, sah ich das weiße Gespinst der Bärenspinner. Fast wie mein Spiegelbild sahen sie aus, diese Falter, wie sie in Ballons aus weißem Gespinst vor dem blass türkisfarbenen Himmel schwebten.
Bis auf meinen Großvater Walter Tate ließen sich in jenem Sommer alle Männer die Haare ganz kurz schneiden, außerdem rasierten sie sich die dichten Bärte und Schnauzer ab. Der Anblick ihrer bleichen, schutzlosen Gesichter war zunächst ein Schock für uns, nackt wie texanische Brunnenmolche kamen sie uns anfangs vor. Seltsamerweise schien nur Großvater, dem ein schwerer weißer Vollbart auf die Brust hing, die Hitze gar nicht zu stören. Er behauptete, das liege daran, dass er ein Mann fester und moderater Gewohnheiten sei, der niemals vor zwölf Uhr mittags Whiskey trank. Sein Schwalbenschwanz , ein muffiger alter Frack mit langen Rockschößen, war damals schon hoffnungslos aus der Mode, aber er wollte nichts davon hören, sich von ihm zu trennen. Obwohl unser Dienstmädchen SanJuanna ihn regelmäßig mit einem Schwamm und Benzin abrieb, behielt der Frack doch immer seinen muffigen Geruch und seine merkwürdige Farbe, die weder schwarz noch grün war.
Großvater lebte mit uns unter einem Dach, trotzdem war er so etwas wie eine Schattengestalt. Schon vor vielen Jahren hatte er die Leitung des Familienbetriebs seinem einzigen Sohn übertragen, meinem Vater Alfred Tate. Seitdem verbrachte er seine Tage mit »Experimenten« in seinem »Laboratorium« hinterm Haus. Dieses Laboratorium war nichts weiter als ein alter Schuppen, der einmal zu den Sklavenunterkünften gehört hatte. Wenn Großvater nicht in seinem Laboratorium war, dann war er entweder auf der Jagd nach Insekten für seine Sammlung, oder er hatte sich mit seinen modrigen Büchern in einen dämmrigen Winkel der Bibliothek zurückgezogen, wo niemand ihn zu stören wagte.
Ich fragte Mutter, ob ich mir die Haare abschneiden lassen dürfe, die mir schwer und warm weit auf den Rücken hingen, doch sie lehnte es rundweg ab; sie werde es nicht dulden, dass ihre Tochter wie eine kurz geschorene Wilde herumliefe. Ich fand das entschieden unfair, ganz abgesehen davon, dass mir unerträglich heiß war. Also entwickelte ich einen Plan: Jede Woche würde ich mir meine Haare einen Zollbreit abschneiden, also gerade so viel, dass es Mutter nicht auffiel. Sie würde es vor allem deswegen nicht merken, weil ich mich mit Wohlverhalten tarnen würde. In der Verkleidung einer wohlerzogenen jungen Dame gelang es mir oft, Mutters gestrengem Blick zu entgehen. Gewöhnlich hielten die Anforderungen des Haushalts und der ständige Trubel, den meine Brüder verursachten, sie dauernd beschäftigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Trubel und Unruhe sechs Brüder verursachen. Hinzu kam, dass Mutters lähmende Kopfschmerzen durch die Hitze nur noch schlimmer wurden, und so musste sie immer wieder Zuflucht zu Lydia Pinkhams Kräuterelixier nehmen, dem, wie es hieß, »besten Blutreinigungsmittel für Frauen«.
Am Abend nahm ich mir eine Stickschere und schnitt mir mit klopfendem Herzen und großer Begeisterung zum ersten Mal einen Zollbreit von meinen Haaren ab. Dann betrachtete ich den weichen kleinen Heuhaufen aus Haaren in meiner gewölbten Hand. Ein großer Augenblick, wie ich fand. Ein erster großer Schritt auf dem Weg in meine Zukunft, in das leuchtende neue Jahrhundert, das in wenigen Monaten beginnen würde. In der Nacht schlief ich schlecht, aus Angst vor dem Morgen.
Am nächsten Tag ging ich mit angehaltenem Atem zum Frühstück hinunter. Die Pekannuss-Pfannkuchen schmeckten wie Pappe. Und was passierte? Absolut gar nichts. Keinem ist auch nur das Mindeste an mir aufgefallen. Einerseits war ich ungeheuer erleichtert, andererseits dachte ich: Das sieht meiner Familie mal wieder ähnlich! Ganze vier Wochen und vier Zollbreit abgeschnittener Haare später sah Viola, unsere Köchin, mich eines Morgens sehr scharf an. Doch gesagt hat sie nichts.
So heiß war es, dass Mutter beim Abendessen nicht mehr die Kerzen im Leuchter anzündete, das hatte es in der Familiengeschichte
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