Camp Concentration
geometrischer Progression ausbreiten.
71.
Die Abstände zwischen meinen Aufenthalten in der Krankenstation werden immer kürzer. Das Denken geht inzwischen seine eigenen Wege.
»Worüber habe ich gerade gesprochen? Ach ja ...«
Ich unterhalte mich mit Spekulationen darüber, wer nun eigentlich diese unwahrscheinliche ›Romanze‹ begonnen hat - und warum. Mordecai? Und wenn er es war, hat er es dann nur aus persönlichem Haß getan? Hat er darin seine letzte Chance gesehen, sich an der Großen Weißen Hure Amerika zu rächen? Oder hat er irgendwie geahnt, wie Busk reagieren würde, und sich an der ganzen Welt gerächt?
Und die Busk selbst? Warum sollte sie bereit gewesen sein, die widerlichen Spirochäten aufzunehmen? Hat vielleicht ein Teil ihrer selbst (ihr Hintern zum Beispiel) seit Jahren auf den Tag gewartet, an dem irgendein kräftiger schwarzer Bock sie bespringen und in sie eindringen würde? Oder hat sie viel weiter gesehen? War Mordecai nur ein Instrument für sie, nur der Vermittler zwischen der ersehnten Krankheit und ihrem Blut? In ihrer Unterwerfung ist gewiß ein faustischer Zug zu erkennen. Hat sie schon damals geplant, im Besitz ihrer prometheischen Gaben aus dem Lager Archimedes zu fliehen? Hat diese Pandora die Büchse des Fremden nur genommen, um sie, als er gegangen war, sofort zu öffnen?
Schalten Sie nächste Woche wieder ein.
72.
Haast war gestern den ganzen Tag nicht zu sprechen. Und heute (es ist jetzt Vormittag) weigert er sich immer noch, sich mit mir zu unterhalten.
Im Fernsehen gibt es noch kein Anzeichen dafür, daß eine Bekanntmachung bevorsteht. (Im Weißen Haus rührt sich nichts, Wall Street scheint noch nicht zu erbeben, und nicht einmal Gerüchte machen sich breit.) Begreift die Regierung nicht, daß diese Bekanntmachung nicht verschoben werden darf? Wenn 30 Prozent der Bevölkerung plötzlich ausfallen, kann eine Industriegesellschaft einfach nicht intakt bleiben.
Und das ist noch nicht einmal die größte Gefahr. Man muß sich einmal die Zerstörungskraft vorstellen, die von so viel plötzlich losgelassener, unkontrollierter Intelligenz ausgehen kann. In den öffentlichen Institutionen zeigen sich schon die ersten Risse. Ich bezweifle sehr, daß beispielsweise unser Universitätssystem diese Entwicklung überleben wird. (Aber vielleicht ist in diesem Fall der Wunsch der Vater des Gedankens!) Die verschiedenen Kirchen splittern sich bereits auf. (Siehe Jacks!) Der katholischen dürfte es allerdings gelingen, wenigstens die Geistlichen bei der Stange zu halten, dank dem Zölibat.
Aber in den anderen Institutionen werden gerade die für die Stabilität unentbehrlichen Personen mit großer Wahrscheinlichkeit infiziert werden, sei es im Bereich der Massenmedien, in Managerkreisen, im Rechts-, Gesundheits- und Erziehungswesen oder in der Regierung selbst.
Was für ein spektakulärer Zusammenbruch das sein wird!
73.
Das Licht ist erloschen; das lange Warten beginnt.
Emsig wird seiner ungewohnten Aufgabe müde, und ich möchte seine Gutwilligkeit nicht überfordern.
Braille?
Aber meine Hände zittern.
Es bleiben noch die Bilder der Erinnerung: Spaziergänge im Schweizer Hügelland (es ist wirklich reizvoller als die Alpen), der Tag am Kiesstrand, als ich mit Andrea Muscheln und Steine sammelte, die dunkelroten Äderchen unter ihren Augen, und die unzähligen leuchtenden Stilleben auf den Tischen der Alltagswelt.
74.
Laforgue schrieb: Ah, que la vie est quotidienne! Aber gerade das ist das Schöne daran.
75.
Auch die Erinnerung hat ihre Musik (kein Wunder, denn sie war die Mutter der Musen), hörbare und unhörbare Musik. Die unhörbare ist schöner. Ich liege im Dunkeln und flüstere:
Das helle Licht sinkt tief hinab;
Manch junge Königin mußte ins Grab;
Und Helenas Lippen sind längst schon kalt.
Ich bin krank, ich sterbe bald.
Herr erbarme Dich unser!
76.
Ich glaube, ich habe es noch nicht ausgesprochen. Nicht mit vielen Worten, nicht mit diesem einem Wort: blind.
77.
Ich schreibe ganz langsam, meine Gedanken schweifen ständig ab. Die Tasten meiner Schreibmaschine sind mit Kerben versehen worden, damit ich diese Aufzeichnungen fortsetzen kann. Jetzt kann ich es ja zugeben: Mir ist mein Tagebuch lieb geworden. Wenn man so einsam geworden ist wie ich, empfindet man es als tröstlich, daß überhaupt noch etwas weiterbesteht.
78.
Haast hat mich noch nicht besucht, und weder die Wärter noch die Ärzte wollen mir sagen, ob etwas gegen die
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