Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
mal.«
Edgar, aus der Küche: »Wohin?«
Ich war bereits weg.
Häuser, Hecken, Autos, alles schwebte unscharf an mir vorbei. In meinem Kopf eine Horde von Fragen, die sich gegenseitig herumschubsten. Wiewarumwaswerwo? Vor dem Laden zögerte ich. Hatte ich, brauchte ich? Nein, ich brauchte nichts. Ich ging weiter und arbeitete die Perlenschnur unserer Dorfstraße ab. Links Post, rechts Bäcker Jost, links Kindergarten, rechts Molkerei.
Vor Altmüllers Tankstelle blieb ich stehen. Ich musste nachdenken, sofort, auf der Stelle. Wann hat es angefangen, dachte ich, und wo? Draußen, ja, nein, drinnen. Genau, ich hatte den Komposteimer genommen und war in den Garten gegangen, um ihn zu leeren. Und da, als ich am Geräteschuppen vorbeigekommen war, hatte ich es gehört. Dieses Winseln, Schluchzen. Ich war stehen geblieben, hatte gelauscht, aber bloß ein Knirschen vernommen, wie von Gummisohlen auf sandigem Boden. Ich war ins Haus zurückgegangen, hatte in der Küche gestanden und durchs Fenster hinausgestarrt. Eine Viertelstunde lang. Bis sich die Tür des Gartenschuppens geöffnet hatte. Bis ich ihn erblickt hatte. Meinen Mann, Edgar. Er hatte die Tür hinter sich verriegelt und war sich mit der Hand übers Gesicht gefahren. Dann war er langsam auf das Haus zugekommen, über die Schwelle getreten, stumm an mir vorbeigegangen, zu den Schubladen. Ich hatte gehüstelt, und er hatte gesagt: »Hm?« Und ich hatte geantwortet: »Du, also, warum? Nein. Nichts.«
Ein Kind spazierte an mir vorbei, hüpfte zweimal einen Kreis um die Zapfsäulen der Tankstelle. Beim Kaugummiautomaten warf es eine Münze ein, drehte die Flügelschraube um. Still lächelnd und mit dicker Backe schlenderte es davon. Mein Mann, dachte ich, während ich dem Kind nachschaute. Mein unerschütterlicher Edgar. Was tut er da, im Geräteschuppen unseres Gartens?
Ich schluckte meine Verwirrung hinunter, richtete die Frisur, die nicht zu richten war. Dann wandte ich mich um und ging nach Hause. Molkerei, Kindergarten, Bäcker Jost, Post, Dorfladen. Kein Mensch kreuzte meinen Weg.
Wir sind bescheidene Leute. Im Sommer bin ich im Garten, im Winter lese ich, vor allem Historisches und Biografien. Edgar hat seine Schallplatten. Jazz, von den Zwanzigern bis in die Fünfziger, ist sein Spezialgebiet: Chicago Jazz, Bigbands, Bebop. Er könnte ohne Weiteres als Experte wirken oder in einer Wissensshow auftreten. Wenn wir Leute einladen, sehen sie die Sammlung und fragen begeistert nach. Edgar winkt ab: »Ach, nur eine kleine Feierabendbeschäftigung. Ich mag halt die Musik.« Wenn er seine Platten um sich hat, ist er glücklich.
Wir machen gern Urlaub im Elsass. Gran Canaria oder Mauritius, solche Eskapaden brauchen wir nicht. Lieber fahren wir über die nahe Grenze und spazieren und schlemmen zwei Wochen lang zwischen Altkirch und Wissembourg. Außerdem kennt Edgar in der Region einen Jazzspezialisten. Wenn sie sich treffen, gönne ich mir einen Tag allein in Colmar oder Straßburg.
Unsere Tochter kommt seit zwei Jahren nicht mehr mit. Als wir vom letzten Urlaub nach Hause kamen, meinte Edgar: »Die Sache ist ganz einfach. Es ist besser für uns alle, wenn sie nächstes Jahr allein in die Ferien fährt. Sowieso ist sie alt genug.«
»Aber so schlimm war es doch gar nicht«, erwiderte ich, »und am letzten Tag, als wir auf dieser Pferdefarm waren, hat sie sich sogar gefreut.«
»Sie hat sich gefreut, weil wir uns bereits auf dem Nachhauseweg befanden.«
»Ach, Edgar.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Es hatte keinen Sinn mehr. Aber auf eine Weise glaubte ich noch immer an den ungebrochenen Wunsch meiner Tochter, jedes Jahr im Juli mit ihren Eltern wegzufahren. Ihre Sommerferien verbringt sie mittlerweile mit ihrer Freundin Stefanie in Locarno. Drei Wochen Strandbad, manchmal shoppen auf der Piazza Grande oder Pizza essen in Ascona. Das ist ihr Programm. »Jedes Jahr das Gleiche«, sage ich zu Edgar.
»Es ist jetzt erst das zweite Mal. Und übrigens machen wir auch jedes Jahr das Gleiche.«
»Oh. Hm. Ja, wir auch.«
»Sie hat es nicht einfach. Gut, ist Stefanie da.«
»Jaja, du hast recht. Gut, ist Stefanie da.«
Ich bin nicht dumm. Aber wenn es um meine Tochter geht, bin ich wie verwandelt. Ich werde zum Wirrkopf, malträtiert von tausend Fragen. Wer, was, wie, warum, wo, wozu? Ich werde zu jemandem, der ich nicht sein will, sage Dinge wie: »Schätzchen, soll ich dir den gestreiften Rock frisch bügeln für morgen? Du wolltest doch in die Stadt.«
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