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Alle Tränen dieser Erde

Alle Tränen dieser Erde

Titel: Alle Tränen dieser Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian W. Aldiss
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Alle Tränen dieser Erde
     
     
     
    Wenn man alle Tränen sammeln könnte, die in der Geschichte der Welt geweint worden sind, hätte man nicht nur eine riesige Wasserfläche – man hätte die Geschichte der Welt.
    Eine Überlegung dieser Art stellte J. Smithiao, der Psychodynamiker an, als er im 139. Sektor von Ing Land stand und die kurze und tragische Liebe des wilden Mannes und Charles Gunpats Tochter beobachtete. Verborgen hinter einer Buche, sah Smithiao den wilden Mann wachsam über die Terrasse gehen; Gunpats Tochter Ployploy stand am anderen Ende der Terrasse und wartete auf ihn.
    Es war der letzte Sommertag im letzten Jahr des vierundvierzigsten Jahrhunderts. Der Wind, der durch Ployploys Kleid raschelte, seufzte durch den bizarren, trostlosen Garten wie das Schicksal bei einer Taufe und zerstörte die letzten Rosen. Später würde das wahllos verstreute Blütenmuster vom Stahlgärtner von Pfaden, Rasen und Innenhof gesaugt werden. Jetzt bildete es eine winzige Flut um die Füße des wilden Mannes, als er die Hand kurz ausstreckte, um Ployploy zu berühren.
    Und dann glitzerte die Träne in ihren Augen.
    Versteckt, fasziniert, sah Smithiao, der Psychodynamiker, diese Träne. Abgesehen vielleicht von einem dummen Roboter, war er der einzige, der sie sah, der einzige, der die ganze Episode miterlebte. Und obwohl er nach den Maßstäben anderer Zeitalter oberflächlich und hartherzig war, empfand er doch menschlich genug, um zu spüren, daß hier – hier auf der ergrauenden Terrasse – ein kleines Schauspiel ablief, das Ende all dessen bezeichnend, was der Mensch gewesen war.
    Nach der Träne kam natürlich die Explosion. Nur Augenblicke lang lebte ein neuer Wind unter den Winden der Erde.
    Es war nur Zufall, daß Smithiao auf Charles Gunpats Besitz spazierenging. Er war als Gunpats Psychodynamiker gewohnheitsmäßig erschienen, um dem alten Mann eine Haß-Stütze anzupassen. Seltsamerweise hatte Smithiao, als er mit seinem Flügel von der Stratosphäre herabschwebte und zur Landung ansetzte, ganz kurz den wilden Mann sich Gunpats Besitz nähern sehen.
    Unter dem bremsenden Flügel war die Landschaft säuberlich geordnet wie eine technische Zeichnung. Die ausgesaugten Felder bildeten makellose Rechtecke. Hier und dort hielt die eine oder andere Robotermaschine die Natur an, ihrem funktionalen Bild zu entsprechen; keine Erbse entstand ohne kybernetische Überwachung in der Hülse; keine Biene schwirrte zwischen Staubgefäßen, ohne daß ihr Weg radarüberwacht wurde. Jeder Vogel hatte eine Nummer und ein Rufzeichen, während bei jedem Ameisenstamm die metallenen Warnameisen mitmarschierten und der Zentrale die Geheimnisse des Haufens mitteilten. Die alte, bequeme Welt der Zufallsfaktoren war unter dem Druck des Hungers verschwunden.
    Nichts Lebendiges lebte ohne Steuerung. Die zahllosen Bevölkerungen vergangener Jahrhunderte hatten den Erdboden ausgelaugt. Nur strengste Sparsamkeit, verbunden mit härtester Reglementierung, brachte genug Nahrung für die jetzige geringe Bevölkerung hervor. Milliarden waren Hungers gestorben; die Hunderte, die es noch gab, lebten am Rand des Verhungerns.
    In der sterilen Ordnung der Landschaft wirkte Gunpats Besitz wie eine Beleidigung. Er umfaßte fünf Morgen Land und war eine kleine Insel der Wildnis. Hohe und ungepflegte Ulmen umgrenzten den Grund und bedrängten Rasen und Haus. Das Haus selbst, das größte im Sektor 139, war aus massiven Steinblöcken erbaut. Es mußte stabil sein, um die Last der Servomechanismen zu tragen, die abgesehen von Gunpat und seiner Tochter Ployploy die einzigen Bewohner waren.
    Gerade als Smithiao unter Baumwipfelhöhe sank, glaubte er eine menschliche Gestalt zum Besitz stapfen zu sehen. Aus einer Vielzahl von Gründen war das sehr unwahrscheinlich. Da der große materielle Reichtum der Welt sich nun auf verhältnismäßig wenige Leute verteilte, war niemand so arm, daß er irgendwohin zu Fuß gehen mußte. Der zunehmende Haß des Menschen auf die Natur, angespornt von der Meinung, daß sie ihn verraten habe, würde einen solchen Weg zum Fegefeuer machen – außer der Mensch war wahnsinnig, wie Ployploy.
    Smithiao verdrängte die Gestalt aus seinen Gedanken und setzte den Flügel auf eine Steinfläche. Er war froh, landen zu können: Es war ein böiger Tag, und die aufgetürmten Kumuluswolken, durch die er herabgekommen, waren voller Luftlöcher. Gunpats Haus mit seinen blicklosen Fenstern, seinen Türmen, seinen endlosen Terrassen,

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