Carpe Somnium (German Edition)
dieser Welt war sie Anna 53. Bedeutete das, dass an irgendeinem anderen Ort noch Anna 1 bis Anna 52 existierten?
Am Fuß eines schmalen Pfads, der sich den Barackenhaufen hinaufschlängelte, kam Mistletoe an zwei kleinen Mädchen vorbei, die eine hellgrüne Muschelschale hin und her warfen. Als sie in Ditas Gasse einbog, war sie derart erleichtert, das Haus unversehrt zu sehen, dass sie beinahe einen der tränenförmigen Büsche umarmt hätte. Während sie sich der kastanienbraunen Tür näherte (die immer blau gewesen war), blickte sie kurz zum Ende der Sackgasse, wo die Brandmauer der Absinthkneipe lag. Auf einem Plakat, dessen untere Hälfte abgerissen war, stand
Zwei für eins
.
Sie trat auf die Türstufe und verharrte, bereit, zu klopfen, ihre Faust einen Zentimeter von der Tür entfernt. Sie fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn sie Annas Freundschaftsanfrage angenommen hätte. Was war die nächste Phase der Version 3.0? Was genau war bei diesem Betatest eigentlich ihre Aufgabe gewesen? Wenn sie sich weiter hier unten versteckte, würde sie vielleicht nie den wahren Grund für ihre Existenz erfahren. Eine Sekunde lang dachte sie darüber nach.
Dann klopfte sie.
16
Söhne
Martin gab dem gelben Schal einen scharfen Ruck. Dita verschwand. Der Schal baumelte kurz von seiner Hand, dann warf er ihn über die braune, welkende Pflanze.
»Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, Ambrose.«
»Wo ist sie?«
»Die echte Dita wurde bereits vor einigen Tagen vaporisiert. Sie hat sich erfolgreich in die Luft gesprengt, nachdem meine Männer ihr Haus umstellt hatten. Diese Dita hier war nur ein simples KI -Profil.«
»Ich meine Mistletoe.«
Martin verschränkte die Arme und starrte durch die Türöffnung auf den wirbelnden Datensturm. Er streckte einen Finger aus, und ein Gedanken-Stream fuhr peitschenartig in das Büro, um sich mit der Fingerspitze zu verbinden. Martin zuckte mit dem Handgelenk, und die Worte ernsthaft Schwimmfüße! tropften von seiner Hand auf den Boden.
»Es gibt eine parallele Realität, die der unseren ähnelt«, sagte Martin. Er hatte sich jetzt fast ganz abgewandt. Ambrose hielt seine Handflächen ein paar Zentimeter auseinander. Er konnte nicht ausflimmern, solange er nicht herausgefunden hatte, was mit Mistletoe geschehen war.
»Du meinst eine unendliche Zahl von parallelen Realitäten«, erwiderte Ambrose. Das war simpelste Grundschul-Physik.
Martin drehte sich endgültig um und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Ambrose nahm die Hände hinter den Rücken, umfasste sein Handgelenk.
»Aber wie viele von denen verwenden ein identisches soziales Netzwerk?«, fragte Martin. »Nur eine, und die war ich imstande zu finden. Oder besser gesagt, sie hat mich gefunden.«
»Die ursprüngliche Übertragung«, sagte Ambrose. »Die Bauanleitung für uns.« Er wünschte, seine Process-Flow-Routine würde von jetzt auf gleich wieder funktionieren und seine Gedanken zu einem logischen Endpunkt führen. Doch weil das unmöglich war, wagte er einen Schuss ins Blaue.
»All diese Profildaten verstärken die Verbindung zwischen unseren Welten. Die sozialen Netzwerke sind die Brücke, und diese Tür hier ist« – wie hatte Martin es genannt? – »das Tor zu uns selbst.«
»Die nächste Stufe der Freundschaft«, sagte Martin. »Also, jetzt ist die vordringlichste Frage die, wie viel wir von jedem unserer User verlangen können für diese beispiellose Gelegenheit –«
Ambrose trat zurück, als unvermittelt eine erstaunliche Gestalt aus der Türöffnung sprang.
»– sein eigener Freund zu werden.«
Die Gestalt war ein Junge, der Ambroses größerer Zwilling hätte sein können. Die Knochenstruktur seines Gesichts war etwas anders.
Irgendwie mädchenhaft
, dachte Ambrose. Und er trug einen hellbraunen Anzug mit breiten roten Querstreifen.
Ambrose und sein Zwilling taxierten einander. Dann streckte der Zwilling die Hand aus. »Ich bin Ambrose 47. Ich freue mich darauf, unsere Freundschaft zu beginnen.«
»Mächtig schicker Anzug, den du da trägst.«
»Die Unterschiede zwischen unseren Gesellschaften, auch wenn sie verhältnismäßig klein sind, werden uns zunächst wechselseitig höchst fremdartig erscheinen. Ich schlage vor, dass wir uns, um unsere Freundschaft erfolgreich zu gestalten, auf die UniCorp-Geschäfte konzentrieren und die Scherze und den Sarkasmus auf ein Minimum beschränken.«
Höre ich mich ernsthaft so an?
, dachte Ambrose.
Mit Nachdruck streckte Ambrose 47 ihm
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