Carpe Somnium (German Edition)
jemand für eine gigantische Museumsausstellung ein detailgetreues Abbild der Welt erstellen wollen, es aber nicht geschafft, es richtig hinzubekommen. In dieser Museumsversion war Anna 53 –
ich
, dachte Mistletoe – eine willige Teilnehmerin an dem Unison-Upgrade. Was bedeutete, dass Anna hier Seite an Seite mit Ambrose aufgewachsen und eine glückliche UniCorp-Streberin geworden war. Es hatte keine dreiste Rettungsaktion gegeben. Sie war nicht auf die Unterseite des Sphärenschilds verschleppt, war nicht versteckt gehalten und belogen worden. Sie hatte nicht so viele andere Leben durcheinandergebracht. Und was war mit Jiri und Dita? Ob sie an diesem Ort noch am Leben waren?
»Hey!«, brüllte sie den Raum an.
»Bitte wählen Sie einen Komponisten aus dem folgenden Angebot: Mozart. Debussy. Bach. Beetho–«
»Zeig mir, wie man nach Little Saigon kommt.«
Ihr Viertel bestand für sie bloß aus falschen Wahrnehmungen und flüchtigen Blicken. Wie benommen lief sie umher, hatte Angst, irgendwas zu berühren, weil sie fürchtete, dass ihre Hand einfach hindurchgleiten und damit die Unstofflichkeit dieser Welt beweisen würde – oder ihre eigene. Alle paar Minuten begann ihr Herz zu rasen, und sie musste stehen bleiben, die Augen schließen und tief durchatmen. Ihre Fingerspitzen prickelten, verloren jedes Gefühl.
Straßen, die eigentlich nach links führen sollten, führten plötzlich nach rechts, und dennoch brachten sie sie an denselben Ort. Ein altmodischer Frisiersalon schien genau so, wie er ihr vertraut war, selbst die krakeligen Graffiti auf der Tür waren da, doch die Person, die davorsaß, war nicht der Mann mit der Knollennase, den sie schon als kleines Mädchen gekannt hatte, sondern eine fette Frau. Ein Apfel, den sie bei einem der Straßenhändler mitgehen ließ, schmeckte haargenau wie ein überreifer Pfirsich. Sie nahm einen Bissen, dann warf sie ihn weg.
Sie stutzte, als sie einen pummligen kleinen Jungen um einen geparkten Pritschentransporter mit Stapeln von alten Gummireifen herumflitzen sah. Ein baumelndes Schild warb für
Chucks Reifen
. Sie folgte dem Jungen in eine Gasse, wo er sich drei anderen Kindern anschloss, die elfseitige Holowürfel gegen eine Backsteinmauer warfen. Etwas abseits blieb sie stehen und lauschte, bis der kleine Junge nieste.
»Sh-sh-sham-poooooo!«
Sie trat mitten in ihr Spielfeld. Shampoo hielt inne, die Holowürfel schimmerten in seiner geschlossenen Hand.
»He, was soll das denn werden?«
»Ich wollte mich bloß dafür entschuldigen, dass ich dir so ’ne Angst gemacht hab, als wir uns das letzte Mal über den Weg gelaufen sind.«
Shampoo blickte schräg zu ihr auf. Er war nicht so schmutzig wie sonst, und seine Augen hatten unterschiedliche Farben – eins war grün, das andere blau. Mit der Hand, die den Würfel hielt, fuhr er sich über die Nase.
»Mach schon!«, drängelte eins der anderen Kinder. Mistletoe sah zu, wie Shampoo forschend ihr Gesicht betrachtete.
»Ähm«, machte er schließlich, »ich glaub, du verwechselst mich mit jemandem.«
»Vor ein paar Tagen hast du mich vor Jiris Trödelladen gesehen. Du hast meinen Namen gerufen, aber ich hab grade versucht, mich zu verstecken, da bin ich sauer auf dich geworden.«
Er trat nervös von einem Fuß auf den andern. »Ich erinnre mich nicht daran.«
»Schon gut. Mein Fehler.« Sie durchstöberte Anna 53s Tasche nach irgendwas, das sie ihm schenken könnte, und brachte einen Anstecker mit einem goldenen
U
zum Vorschein. »Willst du den haben?«
Shampoo sah sie misstrauisch an.
»Nimm ruhig. Er gehört dir.«
Er streckte die Hand aus und schloss sie um den Anstecker. »Danke.«
»Wisch dir das Gesicht ab«, sagte sie und überließ die Kinder wieder ihrem Spiel.
Es stimmte: Mistletoe war hier eine Fremde. Es war ein bisschen traurig zu wissen, dass diese ihr in großen Teilen vertraute Subsphären-Welt existierte, ohne dass sie darin lebte. Während sie sich durch das Gedränge auf den Straßen ihren Weg zu Ditas Barackenhaufen bahnte, schweiften ihre Gedanken ab. Ob Anna 53 wohl gerade verzweifelt versuchte, zurück in ihren Körper zu flimmern? Mistletoe war froh, außer Reichweite des Signals zu sein. Sie stellte sich vor, wie sie beide sich darum stritten, wer wie viel Platz im Gehirn bekam. Gemeinsam mit diesem Mädchen in einem Körper gefangen zu sein wäre die Hölle auf Erden. Aber vielleicht würde Sonnenbraun-Martin sie einfach gehen lassen. Vielleicht hatte er ja noch andere. In
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