Cevdet und seine Soehne
Sirkeci umzog. Im gleichen Jahr starb die Mutter, und Nusret
überließ seinen Anteil an der Erbschaft Cevdet und flüchtete sich nach
Paris. Im Jahr darauf brach Cevdet die Beziehungen zu seinen Verwandten in
Haseki ab und kaufte ein Haus in Vefa. »Militärarzt wie er konnte ich ja
schließlich nicht werden!« dachte er wieder. »Mir tat sich der Weg des
Kaufmanns auf, und den bin ich stur gegangen und habe dabei vollbracht, was
keiner sich sonst traute. Hätte es mir an Mut gefehlt, so wäre ich immer noch
ein kleiner Holzhändler in Haseki!« Beim bloßen Gedanken an seine Verwandten
und Bekannten in Haseki und an das ganze Leben in dem Viertel wurde ihm ganz
blümerant. »Ich bin vor ihnen weggelaufen. Mit ihnen zusammen wäre ein
Kaufmannsleben gar nicht möglich gewesen.« Von weitem sah er seinen Laden. Das
Coupé stand unter einem Baum. »Mein Laden!« murmelte er. Seinen größten Erfolg
sah er gar nicht einmal im Wechsel vom Holz- zum Eisenwarenhandel, sondern in
seinem Einstieg ins Lampengeschäft, den er vor fünf Jahren vollzogen hatte.
Seit er das Privileg innehatte, die Stadtverwaltung von Istanbul und die
Dampfschiffahrtsgesellschaft als Alleinlieferant mit Lampen zu versorgen, hieß
er in Geschäftskreisen nur noch »Lampen-Cevdet«. Der Gedanke daran erfüllte ihn
wieder mit Stolz. Seine Firma war seither auf das Vierfache angewachsen. Dass
er in der Stadtverwaltung hatte jedermann schmieren müssen, gab der Sache zwar
einen unangenehmen Beigeschmack, schmälerte aber keineswegs seinen Erfolg.
Schmunzelnd erinnerte er sich wieder an seinen Traum: »Tja, was soll ich machen,
mich bestraft eben keiner …« Ihm fiel auch wieder Zeliha ein, die ihn am
Morgen auf dem Treppenabsatz abgepasst hatte: »Was soll ich machen, was soll
ich machen, so ist eben das Leben!« Er fühlte sich von einem unsichtbaren
Panzer umgeben, der ihn unangreifbar machte. Da sah er das Ladenschild über der
Tür:
CEVDET UND SÖHNE
EINFUHR – AUSFUHR – EISENWAREN
Mit seiner Ausfuhrtätigkeit hatte er noch nicht begonnen, und
Söhne hatte er auch noch keine, aber beides würde noch werden. Als er über die
Schwelle trat, dachte er: »Das Geld von Eskinazi habe ich jetzt doch nicht! Ich
muss noch mal mit Sadık die Konten durchgehen. Und überlegen, was ich mit
den defekten Lampen anfangen soll … Wie spät ist es eigentlich? Zu nichts hat
man Zeit! Im Lager muss ich auch mal nach dem Rechten sehen. Nicht, dass die
alles kaputtschlagen … Was will denn der Knirps da?«
Ein kleiner Junge hielt ihm einen
Briefumschlag hin. »Das schickte Ihnen Mademoiselle Çuhacıyan!«
»Mademoiselle Cuhacıyan?«
dachte er. Erst wusste er gar nicht, wer das sein sollte. Irgend etwas ließ ihn
erröten. Er gab dem Jungen ein Trinkgeld. Da fiel ihm wieder ein, dass es sich
um die armenische Freundin seines Bruders handelte. Aufgeregt riss er den
Umschlag auf und las:
»Lieber Cevdet, Ihr Bruder Nusret
ist sehr krank. Gestern abend ist er in Ohnmacht gefallen. Heute morgen ist er
einigermaßen bei sich, aber in sehr schlechter Verfassung. Wenn Sie bald kommen
und nach ihm sehen würden, wäre das eine große Freude für ihn. Sagen Sie ihm aber
bitte nicht, dass ich Ihnen diesen Brief geschrieben habe …«
»Sehr krank, jaja, sehr krank!«
murmelte Cevdet. »Bei meiner Mutter hieß es das auch immer, aber gestorben ist
sie deshalb noch lange nicht.« Er steckte den Umschlag ein. »Die wollen mir doch
nur wieder Geld abknöpfen … Dabei habe ich überhaupt keine Zeit!« Als er sah,
wie der auf eine Antwort wartende Junge ihn anstarrte, schämte er sich
plötzlich. »Vielleicht geht es ihm wirklich ganz schlecht? Was fährt mir nur
alles durch den Kopf? Was bin ich für ein Mensch geworden?« Nervös ging er im
Laden auf und ab. »Mein Bruder liegt im Sterben.«
Er gab dem Jungen noch mal ein
Trinkgeld und schickte ihn fort. Dann besprach er sich mit dem albanischen
Verkäufer und mit Sadık. Er merkte, dass er konfuses Zeug redete und die
beiden sich wunderten. »Mein Bruder liegt im Sterben!« dachte er. Er war
aufgeregter, als er das von sich erwartet hätte. »Ich muss mich beruhigen.« Er
stieg in das Coupé und wies den Kutscher an, nach Beyoğlu zu fahren.
An der Galatabrücke hielten sie an,
und der Kutscher entrichtete die Mautgebühr. An der zum Goldenen Horn gewandten
Seite der Brücke plärrte wie immer der Limonadenverkäufer. Um die Pfirsiche des
Obstverkäufers daneben schwirrten Fliegen herum. In der Ferne, vor der
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