Cevdet und seine Soehne
Werft
von Kasımpaşa,
waren Schiffswracks, schief im Wasser liegende Kähne und verrostete Pontons zu
sehen. Das Coupé fuhr wieder an. Der Morgennebel hatte sich gelichtet, und über
der Brücke stand ein strahlender, nur von wenigen zaghaften Wölkchen
punktierter Himmel. Ein Raddampfer, den Cevdet wiedererkannte, die Suhulet, fuhr
vom Goldenen Horn aufs Marmarameer hinaus. Mitten auf dem Deck standen ein
stattlich gebauter Mann mit einem breiten Hut und eine Frau mit
unverschleiertem Gesicht, blickten aufs Meer und hielten dabei ihre beiden in
Matrosenanzüge gekleideten kleinen Söhne an der Hand. »So eine Familie!« dachte
Cevdet. Neben einem Mast standen zwei Männer mit Fes und beobachteten die
Familie ebenfalls. »So eine Familie!« Lastträger mit Schulterhölzern eilten an
Herren mit Fes und Krawatte vorbei. Ein anderes Dampfschiff, das Cevdet kannte,
nämlich die Sahilbent, fuhr auf die Brücke zu. Kinder lehnten am
Brückengeländer und sahen zu dem Schiff hinunter. In seinen ersten Monaten in
Istanbul war Cevdet auch hierhergekommen und hatte sich am Meer und den Brücken
satt gesehen, an den eleganten Kutschen und dem Gewimmel der Leute. Damals gab
es noch keinen Kai in Sirkeci. »Damals … Vor zwanzig Jahren!« Als Cevdet
einfiel, dass er zum erstenmal mit seinem Bruder hierhergekommen war, versetzte
es ihm wieder einen Stich.
Er zog den Brief der Armenierin aus
der Tasche und überflog ihn noch einmal. Er sollte Nusret gegenüber den Brief
nicht erwähnen. Die Frau liebte seinen Bruder sehr, doch wenn sie noch an
solche Kleinigkeiten dachte, konnte es nicht ganz so schlimm um ihn stehen.
Cevdet schämte sich nun, dass er zuvor noch gemeint hatte, der Brief sei nur
ein Trick, um ihm Geld zu entlocken. »Warum will sie dann, dass ich den Brief
nicht erwähne? Weil mein Bruder dagegen war, mir Bescheid zu sagen!« Der Bruder
war Cevdet nicht grün, ja verachtete ihn sogar wegen seiner Lebensführung und
seiner Auffassungen. Dennoch nahm er Geld von ihm an, hätte ihn aber am
liebsten dabei nicht sehen müssen, so dass er sich bei jedem ihrer Treffen
furchtbar genierte und jedesmal auch Cevdet mit immer schlimmeren Beleidigungen
in Verlegenheit zu bringen suchte. Da Cevdet nur allzugut wusste, wie schwer es ihnen
fiel, sich gegenüberzusitzen, besuchte er seinen Bruder nur selten. Ihre
Zusammenkünfte liefen meist so ab, dass sie sich erst ein wenig unterhielten
und Cevdet dann irgendwann mahnte, wenn sein Bruder seine Krankheit endlich
loswerden wolle, dann müsse er unbedingt ins Krankenhaus, worauf der Bruder
stets entgegnete, Krankenhäuser seien nur dazu da, um die Leute schneller ins
Grab zu bringen, wie er als Arzt schließlich am besten wisse, und dann
schwiegen sie sich eine Weile an, bis Cevdet schließlich diskret einen Umschlag
mit Geld daließ und ging. Cevdet las nun noch einmal den Brief der Armenierin
und dachte dann darüber nach, inwiefern die Krankheit seines Bruders der ihrer
verstorbenen Mutter glich.
Beide waren an Tuberkulose erkrankt.
Bei der Mutter hatte sich das Leiden über viele Jahre hingezogen, in ständigem
Auf und Ab. Beim Bruder hatte sich die Krankheit zum erstenmal vor drei Jahren
bemerkbar gemacht, als er noch in Paris war. Die Mutter hatte fortwährend
geklagt und ihrer Umgebung das Leben schwergemacht; darin war der Bruder ihr
durchaus ähnlich. Sowohl Mutter als auch Bruder waren stark abgemagert; als
Cevdet seinen Bruder zum erstenmal wiedergesehen hatte nach der Rückkehr aus
Paris, war er regelrecht erschrocken. Während die Mutter ärztliche Anweisungen
strikt befolgte, hatte der Bruder für Ärzte nichts als Spott übrig; schließlich
war er selber einer. Darüber hinaus war er Alkoholiker und hatte außerdem die
Angewohnheit, sich gegen alles und jedes aufzulehnen. »Er hat eben nie auf sich
aufgepasst!« Cevdet liebte seinen Bruder und konnte ihm nicht richtig böse
sein, selbst wenn jener ihn noch so sehr verachtete und schalt. Als Kinder
spielten sie gemeinsam Verstecken und Himmel und Hölle. Zum Frühlingsfest fuhr
man aufs Land und aß Lamm und Helva. Die Mädchen teilten sich in zwei Gruppen
auf und spielten »Brautabholen«, und dazu sangen sie. Um Akhisar herum waren
herrliche Gärten und Weinberge. »Ach, früher!« Das Coupé war oben beim Tunnel
angelangt und fuhr nun auf Galatasaray zu. Vor dem Optikergeschäft Verdoux
blieb es plötzlich stehen. Cevdet beugte sich hinaus. Weiter vorne war ein
Landauer umgekippt und blockierte die Fahrbahn.
Weitere Kostenlose Bücher