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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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man eigentlich keine menschlichen Gefühle mehr zugetraut hätte.
    Ich erzählte meine anthropologischen Geschichten vom Aufwachsen in Clerkenwell und davon, wie ich in der nicht besonders vornehmen Schule in High Wycombe landete. Ich listete meine Klagen auf. Er war nett und lustig, und als wir auf die West Street hinaustorkelten, besorgte er mir ein Taxi und küsste mich sehr liebevoll und sehr keusch auf die Wange.
    Wir fuhren über die Waterloo Bridge, und ich weinte nicht allzu schlimm.
    Ich gab dem Fahrer ein lächerlich hohes Trinkgeld, und als das Taxi davonfuhr, fiel mir erneut das grässliche alte Auto auf, das rückwärts auf dem Platz des Nachbarn parkte. Da ich diesmal die Schnauze des alten Ungetüms sehen konnte, erkannte ich, dass es sich um einen Armstrong Siddeley handelte, einen prächtigen englischen Dinosaurier aus den Fünfzigern. Die Farben jener Zeit sind ausnahmslos toxische, phenylmethane Albträume, die vom ersten Tag an die Umwelt verpesten. 2010 war der Lack rissig oder abgeplatzt, weshalb der Wagen eher einem toten Fisch als einem Dinosaurier glich, einem Rochen, abgestreifter Haihaut in Tang und Sand.
    Ich stand vor meiner Tür, als mich eine Hand an der Schulter berührte. Mein Schrei musste bis Waterloo zu hören gewesen sein.
    Es war Angus, feingliedrig und gespenstisch.
    »Alles in Ordnung da unten?«
    Das war der Nachbar aus dem zweiten Stock. »Entschuldigung«, rief ich.
    Er knallte das Fenster zu, und Angus zuckte zusammen. Dann löste sich eine junge Frau in dunkelgrauem Overall aus dem Schatten. Das war natürlich Amanda; sie hatte das Haar aus dem Gesicht gekämmt und sah so aufgeregt aus, dass es einem zu denken geben konnte.
    Wir glauben nie, dass etwas Ungewöhnliches geschieht, selbst dann nicht, wenn es passiert. Als sie nebeneinander auf meinem Nelson-Tagesbett saßen, bot ich ihnen eine Tasse Tee an.
    »Danke, nein«, sagte Angus, beugte sich vor und musterte mich aufmerksam. »Wie geht es Ihnen?«
    Amanda studierte mich ebenfalls. Sie hatte sich ihren Skizzenblock in den Schoß gelegt, und urplötzlich dachte ich, dass wir uns ihre Zeichnungen besorgen mussten, zumindest jene, die sie während der Arbeitszeit angefertigt hatte, da sie dem Museum gehörten und für den Hochglanzkatalog gebraucht wurden. Das wäre wirklich phantastisch, so ein Katalog, und wie es schien, besaßen wir dafür jetzt auch das nötige Geld. Crofty hatte seine Wette gewonnen. Der silberne Schwan stellte den Mäzen britischer Kunst zufrieden. Er entwickelte sich zum ›Publikumsmagneten‹.
    Allem Anschein nach wollte Angus mir etwas sagen, hatte aber den Mut verloren.
    »Nun mach schon«, sagte Amanda. Ich sah nur wenig, was mich an die junge Frau erinnerte, die bei der Enthüllung tatsächlich meine Hand gehalten hatte.
    »Was ist los, Angus?« Ich berührte den großen, rauen Handrücken; der kleine Junge von meinem Matthew.
    »Frag sie, ob sie den Schwan röntgen lassen will. Jetzt mach.«
    »Jetzt fangen Sie nicht wieder damit an, Amanda.«
    »Bitte, setzten Sie sich, Miss Gehrig. Ich werde Ihnen nichts tun, aber sagen Sie, vor welcher Entdeckung fürchten Sie sich? Was, wenn ich Leeuwenhoek wäre? Würden Sie sich dann auch weigern, in mein Mikroskop zu schauen? Die Welt sähe dadurch anders aus als alles, was Sie kennen.«
    »Da drinnen ist nichts, Mandy«, sagte Angus. »Das wünschst du dir nur.« Er fasste sie an die Schulter, aber sie schüttelte ihn mit einer heftigen Bewegung ab.
    »Okay. Und was, wenn es Gespenster gibt?«, fragte sie mich.
    »Es gibt aber keine.«
    »Sie nennen es Humbug, aber was ist, wenn dieser Humbug mit der modernen Physik übereinstimmt, mit der Stringtheorie? Dann wären Sie wie einer jener Menschen, die darauf beharrten, dass sich die Sonne um die Erde drehte.«
    »Na schön, dann bin ich eben eine von denen.«
    Unterdessen schlug sie ihren Skizzenblock auf, und irgendwie wusste ich, dass sie einen ›Beweis‹ hatte, eine Art Kosmologie. Ich machte mir nicht gerade Sorgen, war aber misstrauisch und sehr vorsichtig. Ich folgte ihr in die Küche, wo sie hastig Blätter aus dem Block riss und wie Patiencekarten auf den Tisch legte, ohne auf Marmeladenflecken und Butterreste zu achten, obwohl sie jene exquisiten Striche verschmierten, die wie bei einer Karte ohne Unterbrechung über die Grenzen eines gewachsten Blattes zum nächsten führten. Mir gefiel gleich, dass die zusammengesetzte Zeichnung ungewöhnlich schön war, doch begriff ich nur langsam, dass

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