"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Vorwort
Gewalt gebiert Gewalt
Es war ein paar Monate nach dem Ende der DDR, als ich bei Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Büro im Hamburger Pressehaus saß. Die Herausgeberin der »Zeit« war damals ehrenamtliche Beirätin des Gefängnisses Fuhlsbüttel. So hatte sie Peter-Jürgen Boock kennengelernt, der in Santa Fu einsaß. Der Mann, der aus der Roten Armee Fraktion (RAF) ausgestiegen war, hatte sie beeindruckt.
Dönhoff hatte sich bei ihrem Freund, dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, für die Begnadigung von Boock eingesetzt. Doch dann stellte sich heraus, dass seine Beteuerungen - »An meinen Händen klebt kein Blut« - nicht der Wahrheit entsprachen. Boock hatte gelogen. Kurz vor dem Untergang der DDR waren dort zehn ehemalige Mitglieder der RAF verhaftet worden. Sie sagten aus, Boock habe bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer auf dessen vier Begleiter mit geschossen. Er legte ein zweites Geständnis ab.
Die Gräfin saß gut gelaunt hinter ihrem Schreibtisch und schlug ihre himmelblauen Augen auf. »Da hat der Boock uns also alle angelogen«, sagte sie. Sie lächelte nachdenklich und fügte noch hinzu: »Aber vielleicht hätte ich das auch so gemacht, an seiner Stelle. Wer weiß?«
Die RAF hat Menschen in existenzielle Situationen gebracht. »Sieg oder Tod« hieß die Parole ihrer Vorbilder, der Guerilleros in Südamerika. Wer Gewalt ausübt, begibt sich in die Gefahr, durch Gewalt umzukommen. Ulrike Meinhof und andere in Stuttgart-Stammheim inhaftierte Mitglieder der Roten Armee Fraktion schrieben im Herbst 1974: »Wenn es Beerdigungen geben soll - dann auf beiden Seiten.« 1
Die Spitze der »Baader-Meinhof-Gruppe« tat das Ihre, um recht zu behalten: Es gab Beerdigungen; und es gab sie auf beiden Seiten. Gewalt gebiert Gewalt. Bald zwanzig Jahre sollte es dauern, bis sich sowohl bei der Terrorgruppe als auch bei der Bundesregierung eine ernsthafte Bereitschaft am Ausstieg aus der Spirale tödlicher politischer Gewalt entwickelt hatte.
Die RAF ermordete innerhalb von 22 Jahren 33 Menschen. Aus ihren eigenen Reihen verloren 21 Mitglieder ihr Leben. Polizisten erschossen auf der Suche nach Terroristen fünf Unbeteiligte, deren Tod heute vergessen ist. 2 Nach der Bilanz von Horst Herold, dem einstigen Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), wurden im Krieg der RAF gegen den westdeutschen Staat 230 Menschen verletzt. Der Sachschaden des Feldzuges summierte sich auf 250 Millionen Euro. Um das Leben im Untergrund zu finanzieren, erbeuteten Mitglieder der Terrorgruppe bei mindestens 31 Banküberfällen rund 3,5 Millionen Euro. Die Aufwendungen des Staates für die Terrorbekämpfung lassen sich kaum schätzen; sie betrugen Milliarden von Euro. 3
Im Rahmen der juristischen Aufarbeitung des Konflikts produzierten Polizisten und Staatsanwälte rund elf Millionen Blatt Ermittlungsakten. Richter verurteilten 517 Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und 914 wegen Unterstützung einer solchen. Doch das heißt nicht, dass alle Morde der RAF aufgeklärt wären. Welches Mitglied der Gruppe, so eine der vielen offenen Fragen, erschoss im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback? Wer ermordete den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer? Wer brachte Alfred Herrhausen um, wer Detlev Karsten Rohwedder? Auch vierzig Jahre nach der ersten Aktion der Gruppe im Mai 1970 ermitteln die obersten Ankläger der Republik gegen einstige Mitglieder der RAF. Aber werden die Bundesanwälte die Wahrheit über die Gruppe und ihre Taten jemals ans Licht bringen können?
Gleichzeitig erscheinen die Jahre, in denen junge Linksradikale an eine weltweite Revolution für Gerechtigkeit und Freiheit glaubten und dem westdeutschen Staat den Krieg erklärten, heute fast so fern und fremd wie der Zweite Weltkrieg. Manche Nachgeborenen sehen Andreas Baader und die Gründer der Gruppe inzwischen als glamouröse, coole Rebellen gegen den globalen Kapitalismus, andere als psychopathische Schwerverbrecher. Es gibt nach wie vor keinen Konsens darüber, warum 25 Jahre nach dem Untergang Nazideutschlands eine Gruppe gebildeter junger Menschen den demokratischen Staat zum faschistischen Monstrum erklärte und ihn mit Gewalt zu beseitigen versuchte.
Dabei ist allerhand geschrieben worden über den »Krieg der 6 gegen 60 Millionen«, wie der Schriftsteller Heinrich Böll den Angriff der RAF nannte. Insgesamt 15 ehemalige deutsche Terroristen haben autobiografische Texte
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