Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Eins
Lenobia
Lenobia schlief so unruhig, dass dem vertrauten Traum eine nie gekannte Intensität anhaftete. Von Anfang an schien er den ätherischen Raum der Spiegelungen und Phantasien des Unbewussten zu überschreiten und etwas schmerzlich Reales zu erlangen.
Es begann mit einer Erinnerung. Die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte fielen von ihr ab. Sie war wieder jung und naiv und stand im Laderaum des Schiffes, das sie von Frankreich nach Amerika brachte – von einer Welt in eine andere. Auf dieser Reise hatte sie Martin kennengelernt, den Mann, von dem sie sich gewünscht hätte, er möge sie ein Leben lang als Gemahl begleiten. Doch dann war er viel zu jung gestorben und hatte ihre Liebe mit sich ins Grab genommen.
In ihrem Traum spürte Lenobia wieder das sanfte Rollen des Schiffs und roch die Pferde, das Heu, den Ozean, die Fische – und Martin. Martin, auf immer und ewig. Er stand vor ihr und sah sie mit seinen olivfarbenen Augen an, in denen ein Hauch von Bernstein und viel Sorge lag. Sie hatte ihm soeben eröffnet, dass sie ihn liebte.
»Es ist unmöglich.« Noch einmal lief die Erinnerung in ihrem Traum ab. Martin streckte die Hand nach ihrer aus, nahm sie und hob sie sacht an. Dann hob er seinen eigenen Arm dicht daneben, Seite an Seite. »Siehst du ihn, den Unterschied?«
Der träumenden Lenobia entfuhr ein leiser, gepeinigter Laut. Der Klang seiner Stimme! Dieser unverwechselbare kreolische Akzent – tief, sinnlich, unvergleichlich. Der bittersüße Klang seiner Stimme und dieser wunderschöne Akzent waren der Grund, warum sie seit über zweihundert Jahren New Orleans nicht mehr betreten hatte.
»Nein« , hatte die junge Lenobia geantwortet, während sie die beiden Arme betrachtete – seinen braunen und ihren weißen –, die sich aneinanderpressten. »Ich sehe nur dich.«
In ihrem tiefen Schlaf warf sich Lenobia, Pferdeherrin des House of Night von Tulsa, unruhig hin und her, als versuchte ihr Körper, ihren Geist zum Aufwachen zu bewegen. Doch in dieser Nacht gehorchte ihr Geist nicht. In dieser Nacht regierten die Träume und das, was hätte sein können.
Ihre Erinnerungen machten einen Sprung zu einer neuen Szene, noch immer war sie im Laderaum desselben Schiffes, noch immer mit Martin zusammen, doch Tage später. Er hielt ihr eine lange Lederschnur mit einem kleinen, saphirblau gefärbten Lederbeutel hin. »Der gris-gris wird dich beschützen, chérie« , sagte er, während er ihn ihr über den Kopf streifte.
Einen Herzschlag lang wankte die Erinnerung, und die Zeit wurde um ein Jahrhundert weiterkatapultiert. Eine ältere, klügere, zynischere Lenobia strich zärtlich über den brüchigen Lederbeutel in ihrer Hand. Dieser riss auf, und sein Inhalt – dreizehn Dinge, genau wie Martin gesagt hatte – fiel heraus. Die meisten waren im Lauf der hundert Jahre, in denen sie den Talisman getragen hatte, unkenntlich geworden. Lenobia erinnerte sich noch an einen Hauch von Wacholder, daran, wie weich sich der kleine Lehmbrocken angefühlt hatte, ehe er zu Staub zerfiel, und an die winzige Taubenfeder, die sich unter ihren Fingern auflöste. Doch am besten erinnerte sie sich noch an das unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie überkommen hatte, als sie mitten zwischen den zerfallenden Überbleibseln von Martins Liebe und Fürsorge etwas entdeckte, dem der Zahn der Zeit nichts hatte anhaben können. Einen Ring – einen goldenen Reif mit einem herzförmigen, von winzigen Diamanten umrahmten Smaragd.
»Das Herz deiner Mutter – dein Herz – mein Herz« , hatte sie geflüstert und ihn sich über den Ringfinger gestreift. »Ich vermisse dich noch immer, Martin. Ich habe dich nie vergessen – wie ich es dir versprochen habe.«
Und dann schnellte der Traum wieder viele Jahre zurück, zu Martin, nur waren sie nicht mehr auf See, wo sie sich im Laderaum kennen und lieben gelernt hatten. Diese Erinnerung war finster und schrecklich. Selbst im Traum wusste Lenobia noch das exakte Datum und den genauen Ort: Nouvelle-Orléans, 21. März 1788, nicht lange nach Sonnenuntergang.
Der Stall war in Flammen aufgegangen, und Martin hatte sie hinausgetragen und ihr das Leben gerettet.
»Oh Gott, Martin! Nein!« , hatte sie damals geschrien. Nun wimmerte sie nur leise, während sie verzweifelt versuchte aufzuwachen, ehe sie das grausame Ende der Erinnerung noch einmal durchleben musste.
Doch sie erwachte nicht. Stattdessen hörte sie die einzige Liebe ihres Lebens noch einmal die Worte sagen, die ihr
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