Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
andere Bilder noch zurück. In seinem Hinterkopf lauerten sie schon. Die Bilder dicht verparkter, enger Innenstadtstraßen, wütend bimmelnder Straßenbahnen und hupender, drängelnder Rowdies hinterm Steuer. Keiner von denen begriff, was es für ihn bedeutete, diesen mörderischen Dschungel aus Kreuzungen, Einfahrten, Ausfahrten, Ampeln, Zebrastreifen, Haltestellen, Fußgängern, monströsen Bussen, Radfahrern, Mopeds und unendlich vielen Personenwagen mit beinahe 30 Sachen zu durchqueren. An besonders gefährlichen Stellen auch deutlich langsamer.
Hätte Vanetti gewusst, was die nahe Zukunft für ihn bereit hielt, wer weiß – vielleicht hätte er das Gaspedal durchgedrückt und kurz entschlossen den nächsten Brückenpfeiler anvisiert.
7___
Florenz
Chiara las in einer alten Ausgabe von Giorgio Vasaris Le vite , die sie ihren Seminaristen näher bringen wollte. Obwohl sie sich nicht selten darüber wunderte, warum die ein Fach gewählt hatten, für das viele von ihnen so wenig Interesse und Talent aufbrachten. Kurz vor neun, ungewöhnlich pünktlich, meldete sich Antonio über die Sprechanlage. Sie nahm ihre Jacke und lief die vielen Stufen hinunter, die ihr luftiges Nest mit dem Pflaster der Stadt verbanden.
Ein schöner, kühler Märztag. Sie begrüßten sich mit einer Umarmung und einem flüchtigen Kuss, wechselten ein paar Worte und stiegen ein. Das Verdeck des Cabrios war nicht dicht. Chiara zog die Beine an und schlang die weite Jacke darum, so dass nur Kopf und Schuhspitzen aus ihrer Wollbastion ins Freie ragten. Sie überquerten den Fluss und folgten der Via dei Seragli bis zur Porta Romana. Es war nicht viel los, Antonio fuhr schnell. Er lehnte entspannt in seinem Sitz und tat, als würde er den kalten Luftzug nicht spüren, der durch die kleinen Löcher und Risse pfiff. Er summte einen Lopez-Hit, den er, wenn er den Faden verlor, großzügig mit anderen Melodien mischte, die ihm gerade in den Sinn kamen. Irgendetwas kam Antonio immer in den Sinn. Chiara hatte kaum einen Moment erlebt, in dem es ihm die Rede verschlagen hätte. Viele Momente allerdings, in denen er den Faden verlor. Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, gelangten sie bald auf eine schmale, kurvige Landstraße, die sich durch die Hügel südlich von Florenz schlängelte. Rechts und links Weinberge, lange Reihen von Rebstöcken, hin und wieder ein Haus, häufig nur der oberirdische Eingang zu ausgedehnten Kellergewölben, in denen das flüssige rote und weiße Gold der Landschaft reifte. Ihrer Landschaft, in der sie herangewachsen waren. Sie unternahmen diese Ausfahrt, um einen Abschiedsbesuch zu machen, Abschied zu nehmen von ihrer gemeinsamen Kindheit.
Nach etwas mehr als einer halben Stunde fuhren sie durch einen Torbogen in eine gepflasterte Allee, breiter als die Landstraße zuvor, rechts und links gesäumt von hoch aufragenden Zypressen, die das Licht der Märzsonne in Streifen schnitten und als hartes Muster auf Fahrbahn und verwilderte Weinstöcke warfen.
Das Pflaster rüttelte sie durch. Antonio lenkte den Wagen in raschem Zickzack, um den großen Schlaglöchern auszuweichen. Dann lag das Ziel ihrer Fahrt vor ihnen, malerisch an den ansteigenden Hang geschmiegt. Das alte Familiengut der Parellos.
Sie stiegen aus und blieben einen Moment lang schweigend stehen.
Die Sonne schmeichelte dem Anwesen. Trotzdem – oder vielleicht gerade wegen der melancholischen Farben des Verfalls – machte das lang gestreckte, zweistöckige Hauptgebäude einen unendlich verlassenen Eindruck. Ein altes, einsames Haus, traurig wie ein alter, einsamer Mensch. Es war sehr ruhig. Eine lastende, schicksalhafte Ruhe, die durch das Gezwitscher einiger Vögel noch betont wurde.
Antonio, den Oberkörper wie immer ein wenig nach vorne geneigt, stand groß und schlank neben Chiara. Sein schmales, knochiges Gesicht vermittelte noch stärker als sonst den Ausdruck einer gewissen freundlichen Abwesenheit. Sie strahlte dagegen geballte Präsenz aus, beinahe zwei Köpfe kleiner als er, hübsch und zart. Auf den ersten Blick ein junges Mädchen. Nur die hellwachen, klugen Augen hinter der Gucci-Brille verrieten die Dottoressa der Geschichtswissenschaft. Und deutlich mehr Lebenserfahrung als in den Augen junger Mädchen zu finden ist.
8___
Das Familiengut der Parellos. Seit Jahrhunderten hatten Antonios Vorfahren hier gelebt und mit dem Weinbau viele Generationen genährt. Gut genährt. Das Parello-Gut hatte zu den größten der Toskana gezählt und
Weitere Kostenlose Bücher