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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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die nach den Geräten schaute, einfach reden, die hört das
sicher.
    Aber sie hört doch gar nicht zu, oder.
    Immer geschrien soll ich haben, als Kind, als Baby: geschrien,
geschrien, nach Luft geschnappt, noch mehr geschrien, bis der Kopf lila war.
    â€“ Das ist doch nicht normal.
    Ich war, hast du mir immer wieder erzählt, ich war so ein
anstrengendes Kind, so, so anstrengend, immer nur geschrien, ganz steif war ich
vom vielen Schreien.
    â€“ Ja, konntest du mich denn nicht beruhigen, Mama.
    Eine Frage, die verboten ist, was meine ich denn mit dieser Frage,
wie kann ich mir anmaßen, so etwas zu fragen. Meine ich etwa damit, dass du es
nicht geschafft, nicht gewollt oder gar versäumt hast, mich zu beruhigen oder
was. Natürlich hast du es versucht, du hast alles versucht. Ob ich etwa glaube,
du hättest mich da herumliegen lassen. Du hast mich hochgenommen,
herumgetragen, etwas vorgesungen hast du mir, mich dann wieder herumgetragen in
der Wohnung, mich nie , aber wirklich nie allein gelassen, gesprochen mit mir, ja alle Hebel in
Bewegung gesetzt, was man eben so macht mit Babys: alles gemacht bis zum
Abwinken, und wer hat noch immer geschrien.
    â€“ Das war kein unschuldiges Schreien, das war schon fast, also, man
darf das ja bei Babys nicht sagen, das ist ja tabu, aber das war schon fast ein
bösartiges Geschrei, ja eigentlich Folter, so. Jetzt ist das mal gesagt.
Schlafentzug ist Folter.
    Zum Arzt gegangen bist du, dem Familienarzt, einem hageren
verständigen Menschen, der dem ansonsten doch gut gelungenen Kind eine Weile
beim stoßweisen Brüllen zuhörte und dann beruhigend zu dir herübernickte.
    â€“ Ist das denn normal, dass so ein Baby schreit, immerzu. Kann man
da was machen, was kann ich denn tun, ich kann nicht mehr.
    â€“ Das ist eben ein nervöses Kind, ein feinfühliges sensibles Kind,
das schreit eben etwas mehr als andere.
    â€“ Was kann ich denn bloß tun.
    â€“ Sie müssen ruhig bleiben, dann wird das Kind sich auch beruhigen,
das wächst sich aus.
    Du hast nie geschlafen, weil ich geschrien habe, also: Folter. Nicht
extra, keine Absicht, gut, dann gibt es eben auch absichtslose Folter,
jedenfalls hast du dich gefoltert gefühlt, oder was ist das sonst, wenn man
sich die Haare nicht mehr waschen kann.
    â€“ Wieso die Haare.
    Na, weil ich ja nie Ruhe gegeben habe, konntest du dir nicht die
Haare waschen, ganz einfach. Also ranntest du mit Fettsträhnen durch die
Gegend, tagelang, wochenlang, wie feuchter Schnittlauch auf dem Kopf: ganz erbärmlich, während ich fröhlich vor mich hin schrie,
eigentlich hätte ich Sängerin werden können bei den Lungen.
    Einmal im Monat zum Friseur, wenn Papa mal früher zu Hause war. Der
musste eben arbeiten, so wie das damals war, nicht wie heute, wo die Väter die
Kinder den lieben langen Tag durch die Gegend tragen und zwischendurch am
Computer Geld verdienen mit dem Baby auf dem Schoß. Da hast du dir dann die
Perücke gekauft, ich habe sie mal gefunden hinter den Socken. Warum hast du die
denn aufbewahrt: ein dunkelbrauner Pagenkopf, akkurat geschnitten, der kam auf
den Kopf wie ein Helm, da konnte das Baby brüllen, wie es wollte: Du warst
frisch frisiert.
    Als sie vom Haus in den Bunker laufen, wollen Annies Beine
auf einmal nicht mehr weiter. Weit ist es nicht, in dem kleinen Ort liegt alles
nah beieinander. An der Ecke bei den Wohnblocks ist der Bunker, sie müssen nur
am großen Haus der Lüthens vorbei, das mit seinem steilen Dach im Dunkeln
aussieht wie eine Bergwand, an zwei Obstgärten und dem Hexenhäuschen von Frau
Hellwiger. Eben noch rannte Annie durch den Abend, schneller, als Kinder sonst
laufen, die Tasche mit dem Nötigsten schlug ihr in die Kniekehlen. Mutter zieht
sie voran, es reißt in den Achselhöhlen. Vater ist noch im Haus, warum ist er
noch dort, es ist doch Alarm, aber so macht er es immer. Er wartet und wartet,
bis man schon die Flieger hört, dann kommt er nach, aber manchmal auch nicht.
»Einmal im eigenen Bett schlafen«, sagt er, »es passiert ja doch nichts, oder
ist was passiert.« Annie muss zugeben: »Nein, Papa,
nichts ist passiert, noch nicht.« Dann kommt das
Heulen, und Annie schließt die Augen, betet nicht, zählt nicht die Sekunden,
denkt nicht an Vater, der oben im Wohnzimmer auf und ab geht, vielleicht sogar
das Fenster geöffnet hat für die gute würzige Abendluft, und solange sie nicht
an

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