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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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ihn denkt, wird nichts passieren. Auch heute bleibt er oben, Mutter zerrt
Annie über die Straße, leise auf Vater schimpfend, »im eigenen Bett schlafen«,
murmelt sie, »dass ich nicht lache. Schlafe ich etwa im eigenen Bett. Oder du,
schläfst du etwa im eigenen Bett«, und sie reißt an Annies Arm, ohne auf eine
Antwort zu warten, weil sie schnell weiter müssen, niemand trödelt und auch sie
nicht, man muss Schritt halten mit den anderen, sonst ist nachher womöglich
kein Platz mehr für sie. »Komm rasch, sonst stehen wir draußen, wenn die Bomben
losgehen.« Frau Hellwiger hat ihre Katze unter der
Jacke, der Kopf schaut heraus wie ein Teufelsgesicht. Die Lüthens zerren ihre Instrumente
durch die Nacht, »das sind ja Werte, soll das alles zu Sperrholz werden, das
Cello, die Bratsche aus dem 19. Jahrhundert«, ein ganzes Streichquartett
schleppen sie mit sich herum, sie könnten Musik im Keller machen, aber die
Kästen lehnen nur still in der Ecke und vibrieren, wenn die Flieger kommen.
    Alles ist wie immer, bis plötzlich die Beine unter Annie wegsacken,
sie stolpert, lässt die Tasche fallen und bleibt stehen.
    Â»Jetzt komm«, fährt Mutter sie an, »oder willst du hier Wurzeln
schlagen.« »Meine Beine gehen nicht mehr«, flüstert
Annie, aber die Mutter kann sie nicht hören, es ist viel zu laut um sie herum,
die Sirenen, die vielen Schritte der Nachbarn, Rufe, Keuchen. Mutter legt einen
Arm um sie und schiebt sie grob nach vorne, »komm schon, die Lüthens sind
längst unten.« Annie sträubt sich ja gar nicht, aber
die Beine tun nicht, was sie sollen, weich und nachgiebig zittern sie unter ihr
weg, und wieder sackt sie gegen Mutter. Mutter bleibt stehen und reißt ihr die
Tasche aus der Hand. »Was ist los mit dir«, schreit sie Annie an, »kannst du
noch nicht einmal laufen.« Annie lehnt sich gegen
Mutter und drückt den Kopf in ihren Mantel. Mutter wehrt sie mit dem Ellbogen
ab, reißt Annies Kinn hoch und sagt ihr ins Gesicht, so leise, dass Annie es
nicht überhören kann: »Du quälst mich. Du bringst uns beide um. Willst du das.« Annie schließt die Augen, schüttelt den Kopf und lässt
sich ohne Beine von Mutter bis zum Bunker zerren.
    Angst, ja Angst habe ich immer. Immer noch, jeden Tag.
Zuletzt heute Morgen in der Klinik: dass du mich nicht anschaust.
    Woher ich das nur hätte, hast du immer wieder gefragt, als ob ich
das wüsste.
    â€“ Woher hast du das bloß, also von mir hast du es nicht, ich hatte
nie Angst, das durfte ich gar nicht. Im Krieg Angst haben, das ging nicht. Aber
du, du Mimose. Schon als Baby: vor allem und jedem. Vor Fremden, Hunden,
Flugzeugen, Dunkelheit, vor allem Dunkelheit, vor Autos, Motorenlärm, vor
Träumen, Feuer, vor dem Mond und manchmal sogar vor mir.
    Jedenfalls: Seit ich sprechen kann, spreche ich von Angst. Um sie zu
vertreiben natürlich, oder warum spricht man überhaupt. Allein ging es aber
nicht, die Wörter reichten nicht, auch wenn ich sie noch so oft wiederholte:
Also musstest du sie vertreiben, immer und immer wieder, jetzt sogar manchmal
noch, du musst sie vertreiben, mein Mann reicht nicht aus, er schafft das
nicht, weil nur du es schaffst.
    â€“ Bist du erwachsen oder nicht.
    â€“ Schon, oder.
    Die Angst, du wärst nicht mehr da. Oft stand ich auf, lauschte auf
eure Stimmen im Wohnzimmer, da sprach jemand, also war da jemand, aber ganz sicher
war ich nicht, es konnte ein Trick sein, ein Traum, Einbildung. Nur eines war
ganz sicher: Wenn die Schuhe im Flur standen, musstest du da sein, ohne Schuhe
geht niemand aus dem Haus, vor allem nicht im Winter. Du trugst ja Seidenstrumpfhosen,
die zerreißen auf dem Kies, dem Pflaster, der Straße, also nur mit Schuhen. Ich
starrte auf die Schuhe im Flur, manchmal fasste ich sie an, nur um ganz
sicherzugehen, immer aus Leder, immer Halbschuhe, immer sehr sorgfältig geputzt,
Papa machte das, er polierte sie fein mit Fett und einem weichen Stück Stoff,
das du ihm aus seinen alten Unterhosen zurechtschnittest. Und da standen sie
einträchtig unter dem großen Spiegel, deine Schuhe und Papas dazu, und diese
Eintracht verschmolz mit euren Stimmen von oben zu einem sicheren Bilderrahmen,
in den ich mich legen konnte und endlich schlafen.
    Ein Kind wie gemalt, die roten Backen, die blonden geringelten
Haare, schau, wie ruhig es schläft, nichts kann es aus
der Ruhe bringen,

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