Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
liebevoll.
»Es ist noch genug Zeit, wieder herzukommen und nachzudenken. Möchtest du nicht lieber daheim sein, im Viertel, inmitten all unserer eigenen Sachen?«
Wenn irgend etwas auf der Welt mich wirklich trösten konnte, dann war er es - wie er so ausgesprochen hinreißend den schmalen Kopf zur Seite neigte oder wie er mich fortwährend ansah, mich mit einer Art vertraueneinflößender Ruhe vor dem bewahren wollte, was er für mich befürchtet haben mußte und auch für sich selbst und uns alle.
Mein vertrauter Freund, der immerwährende Gentleman, mein sanfter, duldsamer Schüler. Von seiner Epoche ebenso wahrhaftig dazu erzogen, viktorianische Höflichkeit zu üben, wie von mir dazu, ein Monster zu sein. Was, wenn Memnoch nach ihm verlangt hätte? Und warum hatte Memnoch das nicht gewollt?
»Was habe ich nur angerichtet?« fragte ich. »War das Gottes Wille?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. Er legte seine weiche Hand auf die meine. Seine schleppende Stimme war Balsam für meine Nerven. »Komm nach Hause. Ich habe mir stundenlang im Rundfunk und im Fernsehen die Geschichten angehört von dem dunklen Engel der Nacht, der Veronikas Schweißtuch brachte. Und die zerschlissenen Kleider des Engels sind in die Hände von Priestern und Wissenschaftlern gelegt worden. Dora hat alles fest im Griff. Das Tuch hat schon Heilungen verursacht. Aus aller Welt strömen die Menschen nach New York. Ich bin froh, daß du zurück bist. Ich möchte dich hier, bei mir haben.«
»Habe ich Gott gedient? Kann das möglich sein? Einem Gott, den ich immer noch hasse?«
»Ich habe die Geschichte noch nicht aus deinem Mund gehört«, sagte er. »Wirst du sie mir erzählen?« Geradeheraus und direkt, ohne überschwengliche Gefühle. »Oder verursacht es dir zuviel Pein, alles noch einmal zu erzählen?«
»David soll es aufschreiben, aus dem Gedächtnis.« Ich pochte an meine Schläfe. »Wir haben doch ein so gutes Gedächtnis. Ich glaube, einige der Unseren können sich an Dinge erinnern, die nie wirklich geschehen sind.«
Ich schaute mich um. »Wo sind wir? Oh, mein Gott, ich hatte es vergessen. Wir sind in der Kapelle. Da ist der Engel mit dem Weihwasserbecken in der Hand, und dieses Kruzifix, das war vorher schon hier.«
Wie steif und leblos dieser gekreuzigte Christus aussah, wie wenig ähnlich dem Abbild auf dem glänzenden Schweißtuch.
»Louis, was hast du gedacht, als du das Tuch sahst?«
»Daß es der Christus war, an den ich einst geglaubt habe. Daß es der Sohn Gottes war, wie ich ihn kannte, als ich noch ein Kind war und dieses Land hier tiefer Sumpf.« Er klang ganz geduldig. »Komm mit heim. Laß uns hier weggehen. Hier gibt es … Dinge.«
»So?«
»Nennt man sie Geister? Seelen?« Er schien nicht ängstlich. »Sie sind unscheinbar, aber ich kann sie spüren, und du weißt. Lestat, daß ich nicht deine Kräfte habe.« Wieder sein Lächeln. »Du müßtest es auch merken. Spürst du sie nicht?«
Ich schloß die Augen oder genauer, ein Auge. Ich hörte ein merkwürdiges Geräusch wie von vielen, vielen Kinderfüßen, die in Reih und Glied gingen. »Ich glaube, sie singen die Rechentafel.«
»Und was soll das sein?« fragte Louis. Er drückte meinen Arm und beugte sich dicht zu mir herüber. »Lestat, was ist eine Rechentafel?«
»Ach, du weißt doch, so haben die Waisenkinder hier im Haus früher multiplizieren gelernt, sie haben es bestimmt immer in der Klasse gesungen - ›Zwei mal zwei ist vier, zwei mal drei ist sechs, zwei mal vier ist acht‹. So geht das doch, nicht wahr? Das singen sie gerade…«
Ich stockte. Da war jemand im Vorraum direkt vor der Kapelle, in dem Raum, der zwischen der Tür zur Halle und dem Kapelleneingang liegt, genau an der Stelle, in deren tiefen Schatten ich mich damals vor Dora versteckt hatte.
Es war einer von uns. Zweifellos. Und der Jemand war alt, sehr alt. Ich konnte seine Macht spüren. Jemand, der so alt war, daß es nur Memnoch oder der Leibhaftige Gott ermessen könnte oder … Louis vielleicht, Louis, wenn er seinen Erinnerungen traute, den kurzen Blicken, den kurzen, niederschmetternden Erfahrungen mit den sehr, sehr Alten, vielleicht …
Er hatte immer noch keine Angst. Er beobachtete mich, war auf der Hut, aber im Grunde ohne Furcht.
»Komm, ich laß mich doch nicht davon ins Bockshorn jagen!« Ich schritt darauf zu. Ich hatte die beiden Beutel mit den Büchern über die Schulter geworfen, meine Linke krallte sich um den Stoff. So hatte ich die rechte Hand
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