Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
den ein Emblem geschnitten war - ein geschwungenes Symbol, das an die Zeichnungen auf Wills Haut erinnerte. Der Schattenjäger-Codex prangte in schweren silberfarbigen Lettern auf der Vorderseite. Tessa schaute zu Will hoch. »Was ist das?«
»Angesichts der Tatsache, dass Sie derzeit in unserem ›Allerheiligstem‹ wohnen, nehme ich an, dass Sie sicherlich eine Menge Fragen zu uns Schattenjägern haben. Dieses Buch müsste Ihnen alles beantworten, was Sie wissen wollen. Es enthält Informationen über uns, unsere Geschichte und sogar über Schattenwesen wie Sie.« Will zog eine ernste Miene. »Aber gehen Sie bitte sehr sorgsam damit um. Dieses Werk ist sechshundert Jahre alt und das einzige noch existierende Exemplar. Beschädigung oder gar Verlust dieses kostbaren Buchs würden mit dem Tode bestraft.«
Tessa stieß den Wälzer von sich, als stünde er in Flammen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Sie haben recht - das war nur ein Scherz.« Will sprang von der Leiter und landete leichtfüßig direkt vor Tessa. »Aber Sie glauben tatsächlich alles, was ich sage, nicht wahr? Liegt das vielleicht daran, dass ich so ein vertrauenswürdiges Gesicht habe, oder sind Sie eine von der naiven Sorte?«
Statt einer Antwort warf Tessa ihm nur einen finsteren Blick zu und marschierte quer durch den Saal zu einem der Erkerfenster. Dort ließ sie sich auf die Steinbank sinken, schlug den Codex auf und begann zu lesen, wobei sie Will geflissentlich ignorierte - selbst dann noch, als er sich neben sie setzte. Während sie sich ihrer Lektüre widmete, konnte sie seinen durchdringenden Blick spüren.
Die erste Seite des Nephilim-Buchs zeigte dasselbe Bild, das sie bereits auf zahlreichen Wandteppichen in den Fluren gesehen hatte: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand. Darunter stand: »Der Erzengel Raziel und die Engelsinsignien.«
»So hat alles angefangen«, erklärte Will fröhlich, als bemerkte er überhaupt nicht, dass Tessa ihn ignorierte. »Eine Beschwörungsformel hier, ein wenig Engelsblut dort und schon erhält man eine Rezeptur für unzerstörbare menschliche Krieger. Natürlich werden Sie uns niemals verstehen lernen, indem Sie einfach nur ein Buch über uns lesen, aber es ist zumindest ein Anfang.«
»Von menschlich kann wohl kaum die Rede sein - eher wie Racheengel«, sagte Tessa leise, während sie die Seiten umblätterte. Dort waren Dutzende Abbildungen von Engeln zu sehen, die aus dem Himmel herabfielen und dabei Federn versprühten wie die Funken einer Sternschnuppe. Es folgten weitere Illustrationen des Erzengels Raziel: Er hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, auf dessen Seiten Runen wie Flammen brannten. Mehrere Männer knieten vor ihm - Männer, auf deren Haut tiefschwarze Male zu erkennen waren. Männer wie derjenige, dessen Antlitz Tessa in ihrem Albtraum gesehen hatte, mit fehlenden Augen und zugenähten Lippen. Auf den nächsten Seiten fanden sich Abbildungen von Schattenjägern mit flammenden Schwertern in den Händen, wie himmlische Engelskrieger. Tessa warf Will einen Blick zu. »Dann sind Sie also tatsächlich der Nachfahre eines Engels? Ein Halbengel?«
Will schwieg und schaute aus dem Fenster, durch die transparente untere Scheibe hindurch. Tessa folgte seinem Blick: Das Fenster musste auf die Vorderseite des Instituts hinausgehen, denn sie erkannte einen runden, von Mauern eingefassten Innenhof. Hinter den Gitterstäben eines hohen Eisentors, das von einem massiven Torbogen eingefasst war, konnte Tessa im Schein der gelblichen Gaslaternen Teile der dahinterliegenden Straße ausmachen. Im oberen Abschnitt des schmiedeeisernen Gitterwerks traten deutlich mehrere geschwungene Lettern zutage, die aus Tessas Position jedoch spiegelverkehrt waren und sich nur mühsam entziffern ließen.
»›Pulvis et umbra sumus.‹ Ein Zitat aus einer Ode von Horaz: ›Staub und Schatten sind wir.‹ Passend, finden Sie nicht auch?«, bemerkte Will. »Als Dämonentöter führt man kein langes Leben; in der Regel sterben wir jung und unser Leichnam wird anschließend verbrannt - Asche zu Asche, im wahrsten Sinne des Wortes. Und danach verschwinden wir in den Schatten der Geschichte, ohne auch nur eine Spur auf den Seiten eines irdischen Buchs zu hinterlassen, das der Welt von unserer einstigen Existenz berichten würde.«
Tessa musterte Will. Auf seinem Gesicht lag wieder dieser Ausdruck, den sie ebenso seltsam wie äußerst faszinierend fand
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