Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Gestalt bewegte sich schnell, so schnell wie ein Peitschenschlag, aber nicht schnell genug: Der Krug traf den ausgestreckten Arm des Schattens, ehe er Tessas Hand entglitt und krachend gegen die Wand schlug. Ein Hagel aus Porzellanscherben prasselte auf den Boden, während der Schemen aufschrie.
Der Schrei stammte unverkennbar von einem Mann. Genau wie der darauf folgende Schwall von Flüchen.
Tessa wich einen Schritt zurück und stürmte dann zur Tür, doch diese war wieder ins Schloss gefallen und ließ sich nicht öffnen, so sehr sie auch an dem Knauf rüttelte. Plötzlich erfüllte ein strahlendes Licht den Raum, so als wäre die Sonne aufgegangen. Tessa wirbelte herum, blinzelte gegen die Tränen in ihren Augen an und erstarrte.
Vor ihr stand ein junger Mann. Er konnte nicht viel älter sein als sie selbst - siebzehn, möglicherweise achtzehn - und trug augenscheinlich Arbeiterkleidung: eine ausgefranste schwarze Jacke und Hose und dazu robuste Stiefel, allerdings keine Weste. Breite Lederbänder liefen kreuzweise über seine Brust und Hüfte, Ledergurte, an denen Waffen befestigt waren - Dolche und Klappmesser und irgendwelche Objekte, die an Klingen aus Eis erinnerten. In der rechten Hand hielt der Eindringling eine Art Stein, der hell leuchtete und das Licht erzeugte, das Tessa fast geblendet hatte. Aus seiner anderen schlanken Hand mit den langen Fingern strömte Blut ... aus einer Wunde, wo Tessa ihn mit dem Porzellankrug getroffen hatte.
Doch nicht die klaffende Wunde ließ Tessa wie gebannt auf die Erscheinung starren - der Mann besaß das attraktivste Gesicht, das sie je gesehen hatte: ein wilder schwarzer Haarschopf, strahlende, wie blaues Glas leuchtende Augen mit dichten, langen Wimpern, elegante Wangenknochen und ein voller, sinnlicher Mund. Selbst die Wölbung seiner Kehle wirkte perfekt. Er sah genau so aus, wie sie sich die Helden in ihren Lieblingsbüchern immer ausgemalt hatte. Allerdings hätte sie sich nie vorgestellt, dass einer dieser Helden sich jemals so heftig fluchend beschweren würde, während er anklagend seine blutende Hand in ihre Richtung streckte.
Im nächsten Moment schien er ihren starren Blick zu bemerken, denn er unterbrach seine Verwünschungen. »Sie haben mir eine Schnittwunde zugefügt«, sagte er. Seine Stimme klang angenehm. Britisch. Durch und durch normal. Mit einem kritischen Blick musterte er seine Hand. »Eine möglicherweise tödliche Schnittwunde.«
Tessa schaute ihn weiterhin mit großen Augen an. »Sind Sie der Magister?«
Der junge Mann ließ die Hand herabsinken. Blut strömte nach unten, tropfte auf den Boden. »Du meine Güte, massiver Blutverlust. Jeden Moment könnte der Tod eintreten.«
»Sind Sie der Magister?«
»Magister?« Die Vehemenz in Tessas Stimme ließ ihn leicht überrascht aufschauen. »Das bedeutet ›Meister‹ auf Lateinisch, nicht wahr?«
»Ich ... äh ...« Tessa kam sich vor wie in einem seltsamen Traum. »Ich schätze schon.«
»Ich habe in meinem Leben bereits viele Dinge gemeistert: mühelos durch das Straßengewirr Londons navigieren, Quadrille tanzen, die japanische Kunst des Blumensteckens, bei Scharaden lügen, ohne rot zu werden, einen starken Rauschzustand verbergen, junge Damen mit meinem Charme entzücken ...«
Tessa starrte ihn ungläubig an.
»Doch leider Gottes hat mich bisher noch niemand als ›der Meister‹ oder ›der Magister‹ bezeichnet«, fuhr er fort. »Da muss ich bedauerlicherweise passen ...«
»Sind Sie im Moment denn stark berauscht?« Tessa meinte diese Frage ernst, erkannte aber in dem Augenblick, als die Worte über ihre Lippen kamen, dass sie schrecklich grob geklungen haben musste - oder, schlimmer noch, kokett. Der Mann wirkte ohnehin zu sicher auf den Beinen, als dass er betrunken sein konnte. Tessa hatte Nate oft genug berauscht erlebt, um den Unterschied genau zu kennen. Aber vielleicht war er ja auch einfach nur verrückt.
»Wie erfrischend unverblümt! Aber ich vermute einmal, alle Amerikaner sind so direkt wie Sie, habe ich recht?« Der junge Mann wirkte belustigt. »Jaja, Ihr Akzent hat Sie verraten. Wie heißen Sie denn?«
Tessa schaute ihn fassungslos an. »Wie ich heiße?«
»Ja, wissen Sie das denn nicht?«
»Sie ... Sie platzen einfach so in mein Zimmer, erschrecken mich fast zu Tode und jetzt wollen Sie meinen Namen wissen? Wie um alles in der Welt heißen Sie denn? Und wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Herondale«, erwiderte der Junge unbekümmert. »William
Weitere Kostenlose Bücher