Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
Alyss
Hatton Hall, Freitag, 6. September 1619
Alyss blieb atemlos stehen. Die Schritte näherten sich, ihre Verfolger würden jeden Augenblick um die Ecke stürzen. Sie musste sich beeilen, denn die Jungen durften sie auf keinen Fall einholen. Sie hatte das Ende des langen Flurs erreicht. Es ging nicht mehr weiter. Rechts führte eine Tür in Vaters Arbeitszimmer, in dem sich Onkel Humphrey eingenistet hatte, links lag die Tür zur Bibliothek. Da die Ratcliffs Bücher verabscheuten, war dies der beste Platz, um sich zu verstecken. Hastig drückte sie die Klinke und schlüpfte in den Raum.
Obwohl es noch Tag war, herrschte hier Dämmerlicht. Die schweren Damastvorhänge waren zugezogen, um die Bücher vor dem Sonnenlicht zu schützen. Nur ein schmaler Lichtstrahl schien durch einen Spalt. Aber Alyss fand sich in der Bibliothek blind zurecht. Vor allem seit ihr Vater in der Neuen Welt verschollen war, hatte sie viele Stunden zwischen den geliebten Büchern verbracht. Sie atmete tief ein. Nichts spendete mehr Trost als der vertraute Geruch nach Leder, Papier und Druckfarbe. Alyss horchte auf. Die Stimmen aus demGang klangen bedrohlich nah. Die Zeit war knapp. Sie hastete um den schweren Tisch herum auf das Bücherregal rechts vom offenen Kamin zu. Es reichte vom Boden bis zur Decke. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob vorsichtig ihre Hand zwischen zwei Lederbände auf dem fünften Regalbrett und tastete die Wand hinter den Büchern ab. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Vor lauter Aufregung konnte sie den Hebel, der dort verborgen war, nicht gleich finden. Im Flur war es plötzlich still geworden. Doch schon einen Augenblick später konnte man die Jungen flüstern hören. Sie waren vor der Tür zur Bibliothek stehen geblieben. Alyss musste sich beeilen.
Endlich! Der Hebel. Es gelang ihr, ihn zu fassen. Sie drückte ihn nach unten und presste ihr Gewicht gegen das Holzregal. Mit einem dumpfen Klicken gab es nach, und die ganze Wand, mitsamt den Büchern, bewegte sich leise quietschend nach hinten. Wie von Zauberhand klaffte zwischen dem Mauerwerk des Kamins und dem Regal ein dunkler Spalt. Alyss raffte ihre Röcke und zwängte sich durch die Öffnung. Dahinter war gerade genug Platz für eine Person. Sie drückte sich dicht an die Mauer und schob mit einem Ruck das Regal zurück. Danach hielt sie einige Herzschläge lang den Atem an und lauschte. In der Bibliothek regte sich nichts. Vermutlich hatten sich die Jungen entschlossen, zunächst im Arbeitszimmer nach ihr zu suchen.
Seit die drei Brüder vor ein paar Monaten hier eingezogen waren, hatten sie nicht aufgehört, sie zu schikanieren. Wenigstens hatte Alyss ihnen gegenüber einen großen Vorteil: Sie war auf Hatton Hall aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Schaudernd dachte Alyss an das letzte Mal, als die Ratcliff-Jungen sie erwischt hatten. Sie hatten sie in den hinteren Teildes Gartens gezerrt, um sie an den Stamm einer Eiche zu fesseln. Danach hatten sie neben ihren Füßen ein Feuer angezündet, sie als Hexe beschimpft und ihr ins Gesicht gespuckt. Wenn der Gärtner nicht im letzten Augenblick aufgetaucht wäre, wer weiß, wie das grausame Spiel geendet hätte. Vor einer Woche hatten sie ihr eine tote Ratte ins Bett gelegt und gestern war sie von ihnen den ganzen Tag lang in den Keller gesperrt worden. Es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Jungen sie dieses Mal erwischten. Trotz des warmen Tages begann Alyss plötzlich zu frösteln. Sie konnte die klamme Mauer hinter ihrem Rücken durch ihr Mieder spüren. Zumindest war sie hier zunächst sicher.
Alyss hatte den Tag, an dem sie den geheimen Raum zum ersten Mal gesehen hatte, nie vergessen. Der Vater hatte ihr in der Bibliothek von seiner Kindheit erzählt, von jener Zeit, als Königin Elisabeth das Land regierte und es unter Todesstrafe verboten war, die katholische Messe zu lesen. Alyss konnte sich noch gut daran erinnern, wie entsetzt sie darüber gewesen war. In Hatton Hall, hatte ihr Vater sie beruhigt, sei kein Priester zu Schaden gekommen. Dann war Ralph Sinclair zum Bücherregal gegangen, sodass Alyss gemeint hatte, er wollte ihr ein Buch zeigen. Stattdessen hatte er das Regal zur Seite geschoben und den Eingang zum Hohlraum enthüllt. Er hatte ihr erklärt, dass dies ein Priesterloch sei, in dem sich die Geistlichen bei Gefahr hatten verstecken können. Damals ging es um Leben und Tod. Heute ... Alyss lauschte. Die Stimmen der Jungen im Gang waren hinter der Bücherwand
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