Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
»Weil ihr nämlich zu jung seid.« Dann drehte sie sich zu Nate und warf ihm unter gesenkten Wimpern einen koketten Blick zu: »Ich persönlich bevorzuge ja die Gesellschaft reiferer Herren.«
Nate ist gerade einmal zwei Jahre älter als Will, dachte Tessa indigniert, und als »reif« kann man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, hallte das Dröhnen eines großen Gongs durch die Flure des Instituts.
Überrascht hob Nate die Augenbrauen. »Ich dachte, dies wäre keine richtige Kirche. Und hier gäbe es keine Glocken.«
»Das war auch kein Kirchengeläut«, erwiderte Will und erhob sich unverzüglich. »Das ist der Klang der Türglocke. Es bedeutet, dass jemand vor dem Tor steht und eine Unterredung mit den Schattenjägern wünscht. Und da James und ich die einzigen zurzeit anwesenden Nephilim sind ...« Will warf Jessamine einen bedeutungsvollen Blick zu und Tessa erkannte, dass er darauf wartete, dass das Mädchen ihm widersprach und protestierte, auch sie sei eine Nephilim.
Doch Jessamine war zu sehr damit beschäftigt, Nate anzulächeln, der sich nun vorbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Keiner der beiden schien sich auch nur im Geringsten dafür zu interessieren, was um sie herum vorging.
Jem schaute zu Will und schüttelte den Kopf. Dann wandten sich beide zum Gehen, und kurz bevor Jem die Tür hinter sich schloss, sah er Tessa quer durch den Raum in die Augen und zuckte resigniert die Achseln. Ich wünschte, du wärst eine Schattenjägerin, glaubte sie in seinem Blick zu lesen, aber vielleicht erhoffte sie sich das ja auch bloß. Vermutlich lächelte er ihr nur freundlich zu, ohne jede tiefere Bedeutung.
Nate schenkte sich selbst eine weitere Tasse heißen Brandy ein. Er und Jessamine gaben nicht länger vor, Karten zu spielen; stattdessen hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten miteinander. Tessa verspürte ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung. Irgendwie hatte sie erwartet, Nates Martyrium hätte ihn nachdenklicher gemacht - aufgeschlossener gegenüber der Tatsache, dass es in der Welt wichtigere Dinge gab als die sofortige Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Von Jessamine hatte sie nichts anderes erwartet, doch die Eigenschaften ihres Bruders, die Tessa einst als liebenswürdig empfunden hatte, zerrten nun auf eine Weise an ihren Nerven, die sie selbst überraschte.
Erneut lehnte sie sich gegen die Fensterscheibe und schaute hinunter in den Innenhof, wo nun eine Kutsche vorgefahren war. Will und Jem standen auf den Treppenstufen, in Begleitung eines elegant gekleideten Mannes - schwarzer Frack, hoher Hut aus teurer Seide und eine weiße Weste, die im Schein der Elbenlichtfackeln aufleuchtete. Auf Tessa wirkte der Mann wie ein Irdischer, obwohl sich das aufgrund der Entfernung nur schwer sagen ließ. Während sie zusah, hob der Mann beide Arme und machte eine ausladende Geste, worauf Will Jem anschaute und dieser nickte. Worüber um alles in der Welt reden die drei?, fragte Tessa sich.
Nachdenklich sah sie an dem Mann vorbei, bis ihr Blick an seiner Kutsche haften blieb, und sie erstarrte. Statt eines Wappens prangte der Name eines Unternehmens auf dem Schlag: Mortmain & Company.
Mortmain. Der Mann, für den ihr Vater gearbeitet hatte, der Mann, den Nathaniel erpresst hatte und der ihren Bruder in die Verborgene Welt eingeführt hatte. Was hatte er hier zu suchen?
Erneut betrachtete Tessa ihren Bruder und ihre anfängliche Verärgerung wich dem überwältigenden Gefühl, ihn beschützen zu müssen: Falls er erfuhr, dass Mortmain hier war, würde ihn das zweifellos sehr belasten. Deshalb erschien es ihr sinnvoller, erst einmal herauszufinden, was Nathaniels ehemaliger Arbeitgeber eigentlich wollte. Leise rutschte sie von der Fensterbank und ging ruhig zur Tür. Nate, der mit Jessamine angeregt ins Gespräch vertieft war, schien ihr Gehen kaum zu bemerken.
Mit erstaunlicher Mühelosigkeit fand Tessa den Weg zu der massiven Wendeltreppe, die sich im Zentrum des Instituts vom obersten Stock bis zum Erdgeschoss erstreckte. Offenbar kannte sie sich inzwischen im Inneren des großen Gebäudes doch recht gut aus, konstatierte sie, während sie die Stufen hinunterlief und vor dem Eingangsportal auf Thomas stieß.
Er hielt ein gewaltiges Schwert in den Händen, die Spitze auf den Steinboden gestützt, und zog eine todernste Miene. Die wuchtige, doppelflügelige Institutstür stand weit offen und zeigte einen rechteckigen
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