Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
durfte sie nicht über Nathaniel nachdenken oder daran, wo er jetzt stecken mochte - jeder Gedanke an ihren Bruder schnürte ihr die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen.
Aber das war längst nicht alles, was sie beschäftigte: Zwei Tage zuvor hatte sie vor einer Abordnung der Nephilim-Gemeinschaft in der Institutsbibliothek erscheinen müssen. Ein Mann, den die anderen Schattenjäger als »Inquisitor« bezeichneten, hatte sie verhört und immer wieder Fragen zu dem Zeitraum gestellt, den sie mit Mortmain im Sanktuarium verbracht hatte - wieder und wieder, auf der Suche nach kleinsten Veränderungen im Ablauf ihrer Geschichte, bis Tessa schließlich vollkommen erschöpft war. Der Inquisitor hatte alles über die Taschenuhr wissen wollen, die Mortmain ihr aufzudrängen versucht hatte, und mehrfach nachgehakt, ob Tessa vielleicht wüsste, wem der Chronometer einst gehört habe oder wofür die Initialen J.T.S. stünden. Nein, sie wusste es nicht, und da Mortmain die Uhr bei seinem Verschwinden mitgenommen hatte, würde sich daran wahrscheinlich auch nichts ändern, hatte Tessa irgendwann spitz bemerkt.
Der Inquisitor hatte auch Will verhört und ihn gefragt, was Mortmain vor seinem Verschwinden zu ihm gesagt habe. Will hatte die Vernehmung mit mürrischer Ungeduld ertragen und war schließlich mit einem Verweis wegen grober Unhöflichkeit und Gehorsamsverweigerung entlassen worden - was jedoch niemanden überraschte.
Der Inquisitor hatte sogar verlangt, dass Tessa ihre Kleidung ablegen sollte, damit man sie auf ein Lilithmal absuchen konnte, doch Charlotte hatte diesem Ansinnen rasch einen Riegel vorgeschoben. Als Tessa endlich hatte gehen dürfen, war sie Will in den Flur nachgeeilt, hatte ihn aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Seitdem waren zwei Tage vergangen und in dieser Zeit war sie ihm nur selten begegnet und hatte auch keine Gelegenheit gehabt, mehr als nur ein paar höfliche Worte in Gegenwart anderer mit ihm zu tauschen. Jedes Mal, wenn sie in seine Richtung gesehen hatte, hatte er sofort weggeschaut. Und wenn sie den Raum verlassen hatte, in der Hoffnung, er würde ihr folgen, war er einfach sitzen geblieben. Es war zum Verrücktwerden!
Natürlich fragte Tessa sich, ob sie vielleicht die Einzige sei, die glaubte, dass sich im Sanktuarium zwischen ihnen beiden etwas ganz Besonderes ereignet hatte. Sie war aus einer Ohnmacht erwacht, die schwärzer gewesen war als bei jeder anderen Verwandlung zuvor, und hatte sich in Wills Armen wiedergefunden. Aus seinen Augen hatte eine solch abgrundtiefe Verzweiflung gesprochen, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte - und die Art und Weise, wie er ihren Namen gewispert und sie angesehen hatte, konnte doch nicht rein ihrer Fantasie entsprungen sein, oder?
Nein, Will lag etwas an ihr, so viel war sicher. Zugegeben, er hatte sich ihr gegenüber seit ihrer ersten Begegnung fast die ganze Zeit unhöflich benommen, aber andererseits war dies in Romanen gleichfalls an der Tagesordnung. Man musste sich doch nur einmal vor Augen führen, wie grob Darcy Elizabeth Bennet behandelt hatte, bevor er um ihre Hand anhielt - und im Grunde genommen sogar noch während seines Heiratsantrags. Und Heathcliff hatte sich Cathy gegenüber nie anders als unhöflich verhalten. Andererseits musste Tessa natürlich einräumen, dass in Dickens' Eine Geschichte aus zwei Städten sowohl Sydney Carton als auch Charles Darnay immer sehr freundlich zu Lucie Manette gewesen waren. »Und doch gab ich der Schwäche nach und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben ...«
Das Beunruhigende an der ganzen Geschichte war die Tatsache, dass Will sie seit der Nacht im Sanktuarium kein einziges Mal mehr angesehen oder ihren Namen ausgesprochen hatte. Tessa glaubte, den Grund dafür zu kennen - die Art und Weise, wie Charlotte sie betrachtete und wie alle anderen in ihrer Gegenwart plötzlich verstummten, hatte sie darauf gebracht. Es war offensichtlich: Die Schattenjäger würden sie fortschicken.
Und warum sollten sie das auch nicht tun? Das Institut war für Nephilim bestimmt, nicht für Schattenwesen. In der kurzen Zeit, die sie nun schon im Institut weilte, hatte sie nichts als Tod und Zerstörung über die Nephilim gebracht - und Gott allein wusste, was noch geschehen würde, wenn sie blieb. Natürlich konnte sie sonst nirgends unterkommen und sich
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