Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
brennen, als würden Tausende winziger Nadeln hineinstechen. Diese Phase der Verwandlung war anfangs der schlimmste Teil gewesen - jener Teil, der Tessa davon überzeugte, dass sie jeden Moment sterben würde. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und ertrug diese Phase mit stoischer Gelassenheit, während ihr ganzer Körper zu zittern begann. Der Klockwerk-Engel an ihrem Hals schien schneller zu ticken, wie im Einklang mit dem Rhythmus ihres pochenden Herzens. Und der Druck unter ihrer Haut stieg immer mehr an, bis Tessa schließlich aufstöhnte und die geschlossenen Augen aufriss, wobei sich die aufgestaute Spannung schlagartig entlud.
Es war vollbracht.
Tessa blinzelte benommen. Der erste Moment nach der Verwandlung erinnerte sie immer an das Auftauchen aus einem Badezuber, mit winzigen Wasserperlen, die an den Wimpern hafteten. Langsam schaute sie an sich herab: Ihre neue Gestalt wirkte zart, fast schon zerbrechlich, und der Stoff ihres Kleides hing lose an ihr herab und warf Falten auf dem Boden. Tessas Blick fiel auf ihre Hände, die sie vor der Brust zusammengepresst hatte - bleiche, dünne Hände mit gesprungenen Fingerspitzen und abgekauten Nägeln, unbekannte, fremde Hände.
»Wie heißt du?«, fragte Mrs Black herrisch. Sie war aufgestanden und schaute aus blassen, brennenden, fast schon gierigen Augen auf Tessa herab.
Tessa brauchte nicht zu reagieren: Das Mädchen, dessen Haut sie trug, antwortete für sie und sprach durch sie, so wie Geister offenbar durch ein Medium kommunizierten. Aber Tessa gefiel dieser Vergleich nicht - die Verwandlung war so viel intimer und so viel furchteinflößender. »Emma«, erwiderte die Stimme aus ihrem Inneren nun. »Miss Emma Bayliss, Madam.«
»Und wer bist du, Emma Bayliss?«
Die Stimme antwortete und die Worte ergossen sich aus Tessas Mund und brachten lebendige Bilder mit sich: Emma war in Cheapside zur Welt gekommen, als eines von sechs Kindern. Ihr Vater war tot und ihre Mutter verkaufte im East End Pfefferminzwasser von einem Handkarren. Schon als kleines Kind hatte Emma gelernt, durch Näharbeiten ihren Teil zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Bis spätabends saß sie an dem niedrigen Küchentisch und nähte Säume im Schein einer Talgkerze. Und manchmal, wenn der Stummel vollständig herabgebrannt war und die Familie kein Geld zum Kauf einer neuen Kerze besaß, ging das Mädchen hinaus auf die Straße und hockte sich unter eine der städtischen Gaslaternen, um dort ihre Arbeit fortzusetzen ...
»War das der Grund, warum du dich in der Nacht deines Todes auf der Straße herumgetrieben hast, Emma Bayliss?«, fragte Mrs Dark. Sie lächelte matt und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, als könne sie die Antwort förmlich erahnen.
Plötzlich sah Tessa eine schmale dunkle Gasse vor sich, mit weißen Nebelschwaden, und eine silberne Nadel, die im schwachen Schein des gelblichen Gaslichts auf und ab wippte. Dann ertönten Schritte, gedämpft durch den dichten Smog. Hände griffen aus den Schatten nach ihr, packten sie an den Schultern, zerrten sie in die Dunkelheit. Sie schrie auf. Das Nähzeug rutschte ihr aus den Fingern und die rosa Schleife fiel aus ihren Haaren, während sie sich verzweifelt wehrte. Eine harsche Stimme schrie sie wütend an. Und dann blitzte die silberne Klinge eines Messers auf, schlitzte ihre Haut auf, ließ das Blut aufspritzen. Ein Schmerz so brennend wie Feuer und nie gekannte Furcht durchfuhren ihren Körper. In Todesangst schlug sie um sich und es gelang ihr, dem Mann, der sie festhielt, den Dolch aus der Hand zu treten. Mit dem Mut der Verzweiflung raffte sie die Waffe an sich und rannte fort, so schnell sie konnte, während das Blut immer schneller aus der klaffenden Wunde strömte und sie immer schwächer wurde. Mühsam schleppte sie sich in einen Durchgang, wo sie schließlich zusammenbrach. Plötzlich hörte sie ein heiseres Zischen hinter sich. Sie wusste instinktiv, dass irgendetwas ihr gefolgt war, und sie hoffte inständig, dass sie sterben würde, bevor es sie eingeholt hatte ...
Die Verwandlung zerbrach wie springendes Glas. Mit einem Aufschrei stürzte Tessa auf die Knie und die zerrissene kleine Schleife glitt ihr aus der Hand. Sie befand sich wieder in ihrem eigenen Körper - Emma war verschwunden, wie eine abgelegte Haut. Tessa war wieder sie selbst.
Aus weiter Ferne drang Mrs Blacks Stimme zu ihr: »Theresa? Wo ist Emma?«
»Sie ist tot«, wisperte Tessa. »Sie ist in einer Gasse gestorben
Weitere Kostenlose Bücher