Teller, Janne
NICHTS
WAS IM
LEBEN WICHTIG IST
Aus dem
Dänischen von Sigrid C. Engeler
1
Nichts bedeutet irgendetwas,
das weiß ich seit Langem.
Deshalb lohnt es sich nicht,
irgendetwas zu tun.
Das habe ich gerade
herausgefunden.
2
Pierre Anthon verließ an dem Tag die Schule,
als er herausfand, dass nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht
lohnte, irgendetwas zu tun. Wir anderen blieben.
Und auch
wenn die Lehrer sich bemühten, rasch hinter ihm aufzuräumen - sowohl im Klassenzimmer
als auch in unseren Köpfen -, so blieb doch ein bisschen von Pierre Anthon in uns hängen. Vielleicht kam deshalb alles so, wie
es kam. Es war in der zweiten Augustwoche. Die Sonne brannte und machte uns
faul und leicht reizbar, der Asphalt klebte an den Sohlen unserer Turnschuhe,
und die Äpfel und Birnen waren gerade eben so reif, dass sie perfekt als
Wurfgeschoss in der Hand lagen. Wir schauten weder links noch rechts. Der erste
Schultag nach den Sommerferien. Das Klassenzimmer roch nach Reinigungsmitteln
und langem Leerstehen, die Fensterscheiben warfen gestochen scharfe
Spiegelbilder, und an der Tafel hing kein Kreidestaub. Die Tische standen in
Zweierreihen so gerade wie Krankenhausflure und wie sie es nur an ebendiesem
einen Tag im Jahr tun. Klasse 7A. Wir gingen zu unseren Plätzen, ohne uns über
die vorgegebene Ordnung aufzuregen.
Kommt
Zeit, kommt Rat, kommt Unordnung. Aber nicht heute!
Eskildsen begrüßte uns mit demselben Witz wie in jedem Jahr.
»Kinder,
freut euch über den heutigen Tag«, sagte er. »Ohne Schule gäbe es auch keine
Ferien .«
Wir
lachten. Nicht, weil wir das witzig fanden, sondern weil er es sagte.
Genau da
stand Pierre Anthon auf.
»Nichts
bedeutet irgendetwas«, sagte er. »Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es
sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden .« Ganz ruhig bückte er sich und packte die Sachen, die er
gerade herausgenommen hatte, wieder in seine Tasche. Mit gleichgültiger Miene
nickte er uns zum Abschied zu und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich zu
schließen.
Die Tür
lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie das tun sah. Mir kam die
angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, das mich verschlingen würde,
wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach
draußen zu folgen. Wem lächelte es zu? Mir, uns allen. Ich sah mich in der
Klasse um, und die ungemütliche Stille sagte mir, dass die anderen es auch
bemerkt hatten.
Aus uns
sollte etwas werden.
Etwas
werden bedeutete jemand werden, aber das wurde nicht laut gesagt. Es wurde auch
nicht leise gesagt. Das lag einfach in der Luft oder in der Zeit oder im Zaun
rings um die Schule oder in unseren Kopfkissen oder in den Kuscheltieren, die,
nachdem sie ausgedient hatten, ungerechterweise irgendwo auf Dachböden oder in
Kellern gelandet waren, wo sie Staub ansammelten. Ich wusste es nicht. Pierre Anthons lächelnde Tür erzählte es mir. Mit dem Kopf wusste
ich es immer noch nicht, aber trotzdem wusste ich es.
Ich bekam
Angst. Angst vor Pierre Anthon .
Angst.
Mehr Angst. Am meisten Angst.
Wir lebten
in Taering , einem Vorort einer mittelgroßen Provinzstadt.
Er war nicht vornehm, aber ziemlich. Daran wurden wir oft erinnert, auch wenn
es nicht laut gesagt wurde. Auch nicht leise. Ordentlich gemauerte, gelb
verputzte Häuschen und rote Eigenheime mit Gärten ringsum, neue graubraune Reihenhäuser
mit Vorgärten, und dann die Wohnungen, wo die wohnten, mit denen wir nicht
spielten. Es gab auch ein paar alte Fachwerkhäuser und ehemalige Bauernhöfe,
deren Land eingemeindet worden war, und einige wenige weiße Villen, wo die
wohnten, die noch mehr ziemlich vornehm waren als wir anderen.
Die Schule
von Taering lag an einer Ecke, wo zwei Straßen aufeinandertreffen . Alle, bis auf Elise, wohnten an der
einen, dem Taeringvej . Elise machte manchmal einen Umweg,
um mit uns anderen zur Schule zu gehen. Jedenfalls bis Pierre Anthon nicht mehr zur Schule ging.
Pierre Anthon wohnte mit seinem Vater und der Kommune im Taeringvej Nr. 25, einem ehemaligen Bauernhof. Pierre Anthons Vater und die Kommune waren Hippies, die in den
Achtundsechzigern stecken geblieben waren. Das sagten unsere Eltern, und auch
wenn wir nicht richtig wussten, was das bedeutete, sagten wir das auch. Im
Vorgarten dicht an der Straße stand ein Pflaumenbaum. Der Baum war groß und alt
und krumm und neigte sich über die Hecke und lockte mit bereift-staubigen Victoria-Pflaumen, die
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