Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Zuckerguss.
Oskar fror. Seine Füße fühlten sich an, als würden sie in der Erde stecken, daran konnte auch das Feuer im Kamin nichts ändern, dessen Knacken und Knistern wie eine entfernte Ankündigung von Silvesterfeuerwerk klang. Vor ihm lag ein Stoß Schreibpapier, links ein Bogen Löschpapier, rechts von ihm stand ein Tintenfass nebst Federkielhalter. Die Hände in fingerlosen Handschuhen steckend, saß er da, presste die Zähne zusammen und versuchte, dem Unterricht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
Heute Morgen stand Latein auf dem Programm. Ein Fach, mit dem Oskar schon an normalen Tagen seine Probleme hatte. Doch heute war kein normaler Tag. Heute war Heiligabend.
Er erinnerte sich, dass sie im Waisenhaus an diesem Tag immer Lieder gesungen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen bekommen hatten. Natürlich waren da auch Fräulein Braunsteins Haferkekse gewesen. Trockene, harte Taler, bei denen man das Gefühl bekam, man hätte Gips zwischen den Zähnen. Doch in den Jahren danach, als er auf der Straße gelebt hatte, gab es nicht mal die. Als Taschendieb hatte er sich weder Tannenbaum noch Kerzen oder Geschenke leisten können. Der einzige Unterschied zu normalen Tagen bestand darin, dass er etwas mehr abgreifen konnte, weil die Leute unaufmerksam und ihre Taschen voller Geld waren.
Wenn man es recht betrachtete, so war das heute sein erster richtiger Heiliger Abend. Und an so einem Tag wurde von ihnen verlangt zu lernen? Dabei gab es noch so viel zu tun: Einkäufe machen, das Haus in Ordnung bringen, den Baum schmücken, Geschenke verpacken. Die Zeit reichte jetzt schon kaum aus. Es gab zwar kaum einen Tag, an dem kein Unterricht stattfand, aber konnte Humboldt nicht mal eine Ausnahme machen? Gewiss, der Forscher hatte ihn vor wenigen Wochen adoptiert, nachdem sich seine Vermutung, Oskar sei sein leiblicher Sohn aus einer Verbindung mit der Schauspielerin Theresa Wegener siebzehn Jahre zuvor, als sehr wahrscheinlich erwiesen hatte. Er war jetzt sein Vater und gesetzlicher Vormund. Und das ließ er ihn jeden Tag spüren. Oskar löste den obersten Knopf seines steifen Hemdkragens. Er war es gewohnt, seinen eigenen Weg zu gehen. Bis er von Humboldt auf der Straße aufgelesen worden war, hatte er sich immer selbst durchgeschlagen. Er hatte ein armes, aber freies Leben geführt, und es fiel ihm schwer, sich den Regeln und Pflichten in diesem Haus unterzuordnen. Warum hatte der Forscher seine Mutter damals alleingelassen und warum hatte er erst so spät die Suche nach ihm aufgenommen? All das waren Fragen, auf die Oskar bisher noch keine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte. Und jetzt sollte er auch noch Latein lernen. Als wenn er das jemals benötigen würde.
Die eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere mit dem Zeigestab kreisförmige Bewegungen vollführend, schritt Carl Friedrich von Humboldt vor seiner Klasse auf und ab. Er deklinierte die Beugung des Substantivs Dominus und tat dies mit einer Stimme, deren gebetsmühlenartige Langsamkeit einen in Tiefschlaf versetzen konnte.
»Dominus, domini, domino, dominium, domine.«
Humboldt drehte sich um, sodass die Dielen unter seinen Stiefeln knarrten. »Domino, domini, dominorum, dominis …«
Die wasserblauen Augen auf den Boden gerichtet, die buschigen Brauen gesenkt, schwang der Forscher seinen Stab wie einen Taktstock. Seine imposante Erscheinung warf düstere Schatten gegen die Wand.
Oskar spürte eine unwiderstehliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Er dachte daran, in was für einen seltsamen Haushalt er hineingeraten war. Am Nachbartisch saß seine Cousine, Charlotte, die Nichte des Forschers. Ihr Federkiel kratzte eifrig über das Papier, während sie jedes einzelne Wort gewissenhaft notierte. Oskar betrachtete ihre gewölbte Stirn, die kleine Nase und die sanften Lippen. Die Wintersonne zauberte einen Schimmer auf ihre blonden Haare und ließ sie wie einen Engel aussehen. Doch der Anblick täuschte.
Charlotte war alles andere als ein Engel. Sie war vorlaut, nachtragend und schnippisch. Eine junge Frau, die genau wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. Außerdem musste sie immer das letzte Wort haben. Mochte der Himmel wissen, warum er jedes Mal so blöd grinsen musste, wenn er sie ansah.
Ein paar Tische weiter hockten Bert, Maus, Willi und Lena, seine Freunde, mit denen er auf der Straße gelebt hatte. Der Forscher hatte sie in sein Haus geholt, weil er Oskar beweisen wollte, dass er es gut meinte. Humboldt war gewiss kein
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