Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
Kapitel 1
London 1816
Eine Bibliothek war ein wirklich wunderbarer Ort, um während eines Balls ein wenig auszuruhen, dachte Lady Lillian Bourne und lehnte sich zufrieden in den weichen Polstern zurück, um die friedliche Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.
Viel Zeit hatte sie nicht. Mit Glück blieben ihr zwanzig Minuten – sofern sie es überhaupt wagte, so lange fortzubleiben. Aber sie brauchte diesen Rückzug und die Stille, wenigstens für ein paar Minuten. Die Klänge des Orchesters wehten nur noch leise zu ihr herüber. Angenehm, nicht mehr so aufdringlich laut wie im Ballsaal, wo Geräusche jeder Art auf einen eindrangen. Nicht dass sie ungesellig gewesen wäre – nein, das nicht. Nur ging ihr das oberflächliche Getue und Gerede der angeblich so feinen Londoner Gesellschaft arg auf die Nerven.
Während sie noch ihren Gedanken nachhing, merkte sie plötzlich, dass sie nicht mehr allein war. Jemand anders schien ebenfalls auf der Suche nach einem friedlichen Plätzchen zu sein.
Die Tür öffnete sich, schloss sich und wurde fast augenblicklich ein zweites Mal geöffnet. Wie viele Leute wollten denn noch in ihr Refugium eindringen?
Als Nächstes hörte sie eine dunkle Männerstimme, die unverkennbar einen Fluch murmelte. Einen äußerst faszinierenden, denn er enthielt ein Wort, das sie nicht kannte und vermutlich als unschicklich galt.
Dann eine zweite Stimme. » Hier habt Ihr Euch also versteckt, Mylord?« Zweifellos handelte es sich um eine Frau, und ihr heißblütiger, verführerischer Tonfall verriet eindeutig, was sie im Sinn hatte.
Lily, die sich zwanglos in die Samtpolster des Sofas gekuschelt und ganz undamenhaft die Beine mit überkreuzten Füßen weit ausgestreckt hatte, musste sich zur Ordnung rufen, um sich nicht aufzusetzen und zu schauen, wer da den Raum betreten hatte. Aber da ihre Furcht, entdeckt zu werden, größer war als ihre Neugier, ließ sie es und beschränkte sich aufs Lauschen.
»Ja, ich war auf der Suche nach einem Ort, wo ich ein paar Minuten ganz für mich sein kann. Allein .« Das letzte Wort betonte er unmissverständlich.
Seine Begleiterin ignorierte den diskreten Hinweis. »Ihr seid immer so witzig«, sagte sie und stimmte ein helles, melodiöses Lachen an.
»Bin ich das?« Die Stimme des Mannes klang ironisch, aber nicht aggressiv, sondern eher lässig. »Dessen war ich mir bisher nicht bewusst. Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, Lady Piedmont?«
Lady Piedmont? Etwa die Lady Piedmont, deren Gatte derzeit als Kandidat für den Posten des Premierministers gehandelt wurde? Hochinteressant. Lily las nämlich nicht nur die Klatschspalten, sondern interessierte sich ebenfalls für Politik und das Intrigenspiel in der britischen Regierung. Und von daher war ihr der Name sehr wohl vertraut.
»Ich denke, Ihr wisst ganz genau, warum ich Euch gefolgt bin.«
Die Lady wirkte auf Lily erheblich weniger weltgewandt, als man ihr gemeinhin nachsagte. Dafür war sie unglaublich direkt und ging äußerst zielstrebig vor, denn ihre geflüsterte Andeutung ließ keine Zweifel an ihren Absichten aufkommen. Und das Ausbleiben einer Antwort nährte bei Lily den Verdacht, dass sie durchaus erfolgreich sein könnte.
So langsam wurde ihr die Sache peinlich. Sie saß da in der Dunkelheit und konnte sich nicht bemerkbar machen. Warum zum Teufelgeriet sie immer wieder in Situationen wie diese, fragte Lily sich mit einer Mischung aus Verärgerung und Verdruss. Sie wollte doch nur ein paar Minuten lang ihre Ruhe haben, unbeobachtet von den Gaffern, die jeden ihrer Schritte verfolgten und nur darauf warteten, dass sie erneut einen Fauxpas beging.
Dabei reichte es ihr wirklich, einmal bei der Gesellschaft in Ungnade gefallen zu sein. Das war mehr als genug.
»Miriam«, sagte der unbekannte Mann, und seine Stimme klang noch tiefer. »Tut das nicht. Ich werde nicht darauf eingehen.«
»Aber, aber, mein Lieber. Euer Körper spricht eine andere Sprache. Sie werden ja ganz hart.«
»Kein Wunder, wenn eine schöne Frau sich daranmacht, meine Hose aufzuknöpfen. Ich glaube, bei den meisten Männern würde das nicht ohne Folgen bleiben. Was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass es mir recht ist und ich diese Annäherung fortzusetzen wünsche.«
»Nein? Da erzählt man sich aber andere Dinge. Überdies heißt es, Ihr wärt bemerkenswert gut bestückt. Ich bin sehr bestrebt, diese Behauptung zu überprüfen.« Sie schnurrte leise und verführerisch.
»Du lieber Himmel, habt ihr Frauen
Weitere Kostenlose Bücher