Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
sein.«
Unverhofft kommt oft
Der Sandstrand war voller Leute. Überall lagen saßen oder spielten Urlauber. Eine Geräuschkulisse, die Cinderella an früher erinnerte. Sie mochte das Geschrei der Kinder, die im Wasser herumplantschten. Es klang genau wie damals im Freibad. Ihre Mutter kaufte immer Saisonkarten für die ganze Familie. Bis sie eines Tages krank wurde und ganz plötzlich verstarb. Cinderellas Augen füllten sich mit Tränen.
Ach, Mom, wieso bist du so früh gegangen? Ich war erst sechs Jahre alt. Das ist nicht fair!
Tommy zog vorsichtig an ihrem Kleid. »Mama? Tut dir was weh?«
Cinderella schlug die Hände vors Gesicht und sank hinunter in den Sand. In diesem Moment hätte sie ihre Mutter gebraucht, hätte sie sich gerne an ihre Schulter gelehnt und ausgeweint. Aber das ging nicht mehr – seit dreiundzwanzig Jahren nicht.
Ein älterer Mann in Badeshorts beugte sich herab. »Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke. Es geht schon wieder«, schluchzte Cinderella.
»Meine Frau sitzt da drüben im Strandkorb. Sehen Sie?« Er zeigte in die Richtung. »Kommen Sie doch ein paar Minuten mit hinüber. Bestimmt mag der Lütte eine kühle Limo. Und meine Gerlinde hat auch einen guten Friesentee in unserer Thermoskanne.« Dabei zwinkerte er ihr freundlich zu.
»O Limo!« Tommy freute sich und stürmte los.
Der Fremde lachte. »Ein wundervoller Bursche, den Sie da haben.«
»Ja, das ist er. Ein wenig voreilig, aber wundervoll.«
Cinderella blickte ihrem Sohn hinterher. Er war das Wertvollste in ihrem Leben und der einzige Mensch, für den sie weiterkämpfen würde. Allmählich schwand der Trübsinn aus ihrem Gesicht.
»Sie haben recht. Vielleicht sollte ich mich ein wenig ausruhen und den Tee Ihrer Frau probieren.«
Der Mann ergriff zwei ihrer Taschen. »Das sollten Sie wirklich. Dieser Tee ist unglaublich lecker.«
Cinderella folgte ihm mit dem restlichen Gepäck zum Strandkorb.
Die Frau des freundlich gesinnten Herrn winkte ihnen fröhlich zu. Sie trug einen aufwendig verzierten Strohhut und strahlte die Art Lebensfreude aus, die Cinderella nur von ihrer Mutter kannte. Tommy hatte es sich unter einem Sonnenschirm bequem gemacht, der das Design einer Apfelsinenscheibe hatte, und schlürfte Limonade aus einem ebenso tropisch aussehenden Becher.
»Das ist wirklich nett von Ihnen«, bedankte sich Cinderella.
Die sonnengebräunte Dame lächelte. »Nun setzen Sie sich doch erst einmal. Sie sehen ja ganz blass aus.« Sie nahm aus einem großen Picknickkorb eine Tasse heraus und goss Tee hinein. »Bitte, versuchen Sie meine hauseigene Mischung.«
Cinderella nickte und trank einen Schluck. »Hm, vielen Dank.«
»Sie sind bestimmt gerade angekommen. Ich meine, wegen der Reisetaschen.«
Cinderella scheute sich vor einer Antwort. Was sollte sieder heiter gestimmten Urlauberin sagen? Dass sie versagt hatte, wie so oft in ihrem Leben? Oder lieber alles mit einer Notlüge abtun? Sie entschied sich für Letzteres.
»Ja, gewissermaßen.«
Tommy protestierte dagegen. »Ist gar nicht wahr. Wir haben in einem Sandburghotel geschlafen, auf einem ganz großen Sofa.«
Cinderella schluckte, während sich das Rentnerpärchen interessiert zu Tommy drehte, der munter weiterplauderte.
Nachdem er dem Sprichwort »Kindermund tut Wahrheit kund« gerecht geworden war, rannte Tommy hinunter zum Wasser.
Cinderella, deren Kopf eine krebsähnliche Färbung angenommen hatte, wich den Blicken der Gastgeber aus.
Super! Jetzt halten sie mich für eine Lügnerin.
Sie überlegte sich zurückzuziehen – sich zu verabschieden und einfach den Standort zu wechseln. Aber das wiederum erschien ihr unangebracht. Nein! Dazu waren diese Leute zu hilfsbereit.
»Ach, ich hatte gehofft, auf Sylt einen Job zu bekommen.«
Cinderella erzählte von ihrem Vorstellungsgespräch und dem Entschluss, wieder in die Heimat zurückzukehren. Die beiden Zuhörer nickten verständnisvoll. In ihren Gesichtern spiegelte sich Mitleid. Und nachdem sie die traurige Geschichte gehört hatten, packten sie ihre Sachen ein und überließen Cinderella den angemieteten Strandkorb, weil sie noch etwas erledigen wollten. Für die Schlüssel vereinbarten sie ein Versteck, während sie Cinderellas Hand zum Abschied schüttelten.
»Alles Gute für Sie und den Kleinen. Und nicht vergessen. Nach Regen folgt Sonnenschein.« Dann verschwanden sie zwischen all den anderen Urlaubern.
Cinderella blickte den Rentnern noch einige Sekunden hinterher.
Dann
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