Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
wenige Schritte entfernt. Cinderella betrachtete das Schaufenster, in dem ein Brautkleid mit Schleppe hing, das ziemlich viel Beinfreiheitzuließ. Zu gewagt, wie sie fand, aber es schien der Trend zu sein. Über dem sündhaft teuren Stück stand »Modisch zum Ja-Wort«. Schweißdurchtränkt stolperte sie hinein – geradeswegs in ein Kundengespräch.
»Oh, verzeihen Sie«, entschuldigte sich Cinderella.
Die beratende Verkäuferin musterte sie argwöhnisch.
»Einen Moment bitte. Ich bin sofort für Sie da.«
Cinderella stellte ihre Taschen ab und wandte sich zu Tommy. »Bitte benimm dich! Hörst du?«
Er nickte und zeigte auf eine Vitrine, in der das Modell einer Hochzeitskutsche stand.
»Guck mal, Mama, coole Pferde.«
»Ja. Aber die sind nicht zum Spielen.«
»Darf ich hin – zum Angucken?«
»Lieber nicht.«
Fünf Minuten später hatte sich Cinderellas Körpertemperatur auf sechsunddreißig Grad Celsius abgekühlt. Der Laden hatte eine gut funktionierende Klimaanlage. Sie fror in ihrem feucht und unförmig herabhängenden Sommerkleid. Tommy hingegen schien der Temperaturwechsel nichts auszumachen. Er schlich um die Vitrine und murmelte vor sich hin. Cinderella strich sich rhythmisch über ihre nackten Oberarme.
Ich brauche diesen Job!
Die Verkäuferin versuchte zwischenzeitlich, die etwas zu rund geratene Kundin von einem gerafften Hochzeitsoutfit zu überzeugen. Leider erfolglos. Die stramme Kundin stand zu ihren Proportionen und wollte lieber gequetscht als gerafft zur ihrer Hochzeit erscheinen. Nach weiteren zehn Minuten gab die Verkäuferin auf.
»Geht in Ordnung, Frau Winterfeldner. Ich kürze es noch ein bisschen und versehe es mit dem ausgewählten Blütenschmuck.«
»Und es wird rechtzeitig fertig?«
»Aber selbstverständlich. Auf uns können Sie sich verlassen. Ihr Auftritt in der Kirche wird glamourös werden, meine Liebe.«
Cinderella atmete durch.
Glamourös? Eher peinlich!
Die zufriedengestellte Kundin legte das Brautkleid ihrer Begierde ab, zwängte sich in ihre Business-Hose und ging, mit dem Handy am Ohr, hinaus.
Die Zeit für Cinderellas Auftritt war gekommen. Ganz bestimmt würde sie mit ihrer Nähausbildung und den vielen Berufsjahren in der Näherei punkten können.
Was, wenn man mich nach meiner Gehaltsvorstellung fragt?
Ihr Puls erhöhte sich. In der Änderungsschneiderei ihrer Stiefmutter hatte sie von allen Angestellten am wenigsten verdient. Familienschicksal, hieß es immer. Aber das war Vergangenheit. Aus und vorbei!
Die Verkäuferin entpuppte sich als Frau Moosmayer – die Chefin der Brautmoden auf Sylt. Und das Vorstellungsgespräch war beinahe kürzer als ein Blick auf das Präsentationsmodell im Schaufenster.
Nachdem sich Cinderella geoutet hatte, verblasste die Freundlichkeit der Geschäftsführerin.
»Ah ja. Sie sind wegen des Stellenangebotes hier.«
»Ja.«
»Besitzen Sie Kenntnisse in der umfassenden Beratung und im eingehenden Kundengespräch?«
»Nein. Aber ich kann nähen.«
»Fremdsprachen in Wort und Schrift?«
Cinderella wurde nervös. »Nee. Ich meene doch. Ein bisschen Englisch.«
»Und wie ich sehe, sind Sie nicht jederzeit einsetzbar.«Frau Moosmayer drehte sich zu Tommy um, der am Boden vor der Vitrine hockte und seine Hände ans Glas drückte. »Tut mir leid. Wir dachten eher an eine ältere Mitarbeiterin.«
Cinderella schluckte.
Eine Kinderlose wahrscheinlich.
»Ich könnte bleiben und Probe arbeiten.«
»Nein, tut mir leid. Dennoch vielen Dank für Ihre Bemühungen. Auf Wiedersehen.«
Eine intensivere Abfuhr konnte es nicht geben. Geknickt wie eine gebrochene Rose, deren Schönheit man verkannt hatte, verließ Cinderella das Geschäft. Tommy ging stumm neben ihr. Sie blickte zum Meer hinüber. Ihr Traum war ausgeträumt – geplatzt wie eine Seifenblase. Und nun? Sie konnte sich keine Unterkunft leisten. Erst recht keine weiteren Crêpes für zwölf Euro achtzig, von denen gerade mal ein Kind satt wurde. Es gab nur noch einen Weg. Zurück! Und so bitter ihr diese Erkenntnis auch erschien, sie hatte keine andere Wahl.
Goodbye Sylt!
Tommy griff nach ihrem Handgelenk.
»Darf ich zum Wasser?«
Cinderella blickte ihn erstaunt an.
Kein »Ich will«?
Sie stellte das Gepäck ab und tastete über seine Stirn. Aber er schien okay zu sein. Nur in seinen blauen Augen konnte sie einen Hauch von Traurigkeit erkennen. Sie kniete nieder und nahm seine Hände.
»Du hast recht! Wir gehen nicht weg, ohne am Strand gewesen zu
Weitere Kostenlose Bücher