Coco Chanel & Igor Strawinsky
Publikum begrüßt auch den Dirigenten und den Konzertmeister mit warmem Applaus. Kurz darauf wird das Licht gedämpft.
Aus dem Dunkel wehen sehnsüchtige Fagottklänge heran. Sechs hohe Töne, ein schlichtes, mehrmals wiederholtes Motiv. Bald löst es sich in vogelgleichem Zwitschern auf, in dünnem Kratzen und Scharren. Die Holzbläser schicken Windböen in das Klanggeschehen, gefolgt vom Rascheln der Streicher. Schließlich der Einsatz des stampfenden Blechs. Wuchtige Schläge der großen Trommel und laute Paukencrescendi.
Die Übergänge sind so abrupt, dass Coco zusammenzuckt. Die Instrumente finden in stürmischen, misstönenden Akkorden zusammen. Die abgehackten Rhythmen beunruhigen sie. So etwas hat sie noch nie zuvor gehört. Die Töne prallen in ungewohnter Weise aufeinander und lassen die Luft seltsam vibrieren. Man hat sie gewarnt, sich auf etwas Neuartiges gefasst zu machen, aber damit hat sie nicht gerechnet.
Vor einem Hintergrund aus wogender Steppe unter einem blauen Himmel tollen zwölf flachsblonde, schwarz gekleidete junge Mädchen über die Bühne und zerfallen in ein provozierendes Tableau. In primitiven Haltungen - die Knie zusammengedrückt, die Ellbogen eng an die Seiten gepresst - hüpfen die Tänzer unbeholfen im Takt.
Einer von ihnen macht eine obszöne Geste. Coco ist schockiert. Andere Zuschauer reagieren mit lauten Rufen und spitzen Schreien. Manche trampeln mit den Füßen. Als die Mädchen die anstößigen Gesten aufnehmen, beginnen viele Zuschauer zu pfeifen. In Cocos Nähe steht eine alte Dame, das Diadem rutscht ihr vor Erregung beinahe vom Kopf. »Eine Schande ist das!«
Auf der Bühne wirbeln die Tänzer immer noch durcheinander
und erstarren in bestürzend intensiven Standbildern, bevor sie wieder in völliger Selbstvergessenheit umherspringen, während die Musik die schroffen Bewegungen ihrer Hände unterstreicht.
»Alles sehr slawisch!«, bemerkt Caryathis.
In der Loge rechts neben ihnen bricht einer der ausländischen Botschafter angesichts des Spektakels in lautes Gelächter aus. Mit boshaftem Vergnügen beobachtet Coco den wachsenden Tumult.
Ein Mann springt auf und verlangt Ruhe. In einer nahe gelegenen Loge schlägt eine Dame ihren pfeifenden Nachbarn mitten ins Gesicht. »Gebt endlich Ruhe, ihr elenden Weibsbilder!«, beschimpft ein anderer Mann aufgebracht einige der schönsten und kultiviertesten Frauen von ganz Frankreich.
»Das ist Florent Schmitt«, flüstert Caryathis. »Ich habe bei ihm Fotos des Komponisten gesehen - Nacktfotos!« Vor dem geistigen Auge der Tanzlehrerin blitzt das Bild des nackten Strawinsky auf: die Hände an die Hüften gelegt, auf einem kleinen hölzernen Bootssteg - Gemächt im Profil, den straffen Hintern frech gereckt - und ein mageres weißes Pferd gelangweilt im Hintergrund.
Coco lacht, verblüfft darüber, dass sich in diesen Kreisen solche Szenen abspielen. Je höher man in der Gesellschaft steigt, so scheint es, desto unmoralischeres Verhalten wird einem gestattet - ja von einem erwartet.
Sie bemerkt, dass das Publikum immer unruhiger wird. Akkorde prallen aufeinander, und die so verschiedenartigen Rhythmen wirken unschön und fremd. Für die Pariser Elite bleibt der Eindruck des Primitiven bestehen: von mongolischer Barbarei und tatarischer Wildheit, von Heringen und schlechtem Tabak.
Coco stimmt in das Lachen der anderen ein. Gleichzeitig
jedoch fühlt sie sich dem Experimentellen, Impulsiven in dieser Musik verbunden. Ihre Neuartigkeit ist wie ein Echo auf ihren ersten Kontakt mit dieser Gesellschaft. Genau wie sie wirken die Rhythmen getrieben. Es ist, als schlügen die Klavierhämmer auf ihren Körper, als werde ihre Haut vom Rosshaar der Bögen aufgescheuert. Die Energie fährt durch sie hindurch, als sei sie ein Blitzableiter im Gewitter.
Inmitten der widerstreitenden Rhythmen bemerkt sie aus dem Augenwinkel, dass Charles sie ansieht.
Unvermittelt erhöht sich das Tempo der Choreografie. Wie entfesselt verrenken die Tänzer ihre Körper in alle möglichen gequälten und erotischen Posen. Die Temperatur steigt spürbar, Fächer beginnen zu flattern, und Coco scheint es, als sei das Theater angefüllt mit gefangenen Vögeln.
Die Proteste erreichen eine derartige Lautstärke, dass die Musik kaum noch zu hören ist. Einige Frauen vor ihr sind so bestürzt - oder so ausgelassen -, dass ihnen Tränen in die Augen steigen, sich mit der Wimperntusche verbinden und in schwarzen Streifen über ihre Wangen laufen. Natürlich
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