Coco Chanel & Igor Strawinsky
auszusehen.
Alles hier zeugt von Privilegien. Diamanten funkeln, Perlen schillern im Licht der Kronleuchter. Für einen Moment fühlt sie sich wie eine Hochstaplerin. In ihrem Kopf drängen sich die Erinnerungen an ihre Kindheit: ein heruntergekommener Bauernhof, ein winziges Stück Land, ihre Mutter krank, der Vater immer fort, und ihre Brüder und Schwestern zanken sich wie die Hennen im Hühnerhof. Dunkel erinnert sie sich daran, wie sie Arme voll Möhren von den Feldern zurückbrachte. Doch jetzt, umringt von den unermesslich Reichen und beiläufig Amüsierten, kommt es ihr vor, als hätte sie sich das alles bloß eingebildet.
Weil sie fest daran glaubt, zu Höherem bestimmt zu sein, hat sie diesen Teil ihres Lebens aus ihrem Bewusstsein verdrängt und sich neu erfunden, sie hat sich selbst neu erschaffen. Sie hat Männer benutzt und ist von ihnen benutzt worden. Sie hat gelernt, sich im Geschäftsleben zu behaupten und erfolgreich zu sein. Alles, was sie erreicht hat, hat sie sich hart erarbeitet - niemand arbeitet härter als sie, davon
ist sie überzeugt. Und jetzt steht sie hier; sie hat es geschafft. Ihr Geschäft floriert. Scharen von Männern sind verrückt nach ihr, und zu ihren Kundinnen gehören einige der reichsten Frauen Frankreichs. Nicht schlecht für ein Waisenmädchen, denkt sie. Sie wird jemand sein , das weiß sie. Sie wird einen Schatten werfen und es all diesen Frauen beweisen.
Ihre Nervosität verfliegt und weicht einem Hochgefühl. Während rings um sie her Programme konsultiert und zwanglose Plaudereien geführt werden, spürt sie, wie ihre Selbstsicherheit wächst. Sie setzt sogar eine leicht abwesende Miene auf, begegnet einigen Leuten, denen sie kühl die Hand reicht, und erwidert gleichgültig ihr beflissenes Lächeln.
Eigentlich hatte sie gar nicht kommen wollen. Sie ist nur hier als Begleitung für Charles Dullin, der sich geweigert hat, für ihre Tanzlehrerin Caryathis und deren reichen deutschen Liebhaber von Recklinghausen allein die Anstandsdame zu spielen. Sie vervollständigt also bloß das Quartett. Aber irgendwie muss sie ja anfangen, und sie ist glücklich über die Gelegenheit, dabei zu sein. Und so ist dieser Abend in gewisser Weise Cocos Debüt.
Charles, der neben ihr sitzt, ist freundlich und zuvorkommend. Er ist Schauspieler, und schon seit Langem genießt sie seine Auftritte und bewundert ihn aus der Ferne. Doch im direkten Umgang ist er nicht so geistreich, wie sie erwartet hatte. Tatsächlich findet sie ihn ziemlich durchschnittlich. Ohne Textbuch fällt ihm kaum etwas Scharfsinniges ein. Und falls er versuchen sollte, Eindruck zu machen, ist es jetzt zu spät. Jemand hat ihm die Schau gestohlen.
Schon zu Beginn des Abends hatte Coco das Gefühl, Zeugin einer Sensation zu sein. Denn Caryathis ist ohne Hut gekommen, das Haar rigoros gekürzt.
»Meine Liebe, was hast du gemacht?«, fragt Coco und kann ihre Begeisterung kaum verbergen.
Caryathis erklärt es ihr. Nachdem sie vor einigen Tagen von einem Mann zurückgewiesen wurde, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, hat sie sich mit einer Schere über ihr Haar hergemacht. Da sie den Drang zu einer großen Geste verspürte, fasste sie die abgeschnittenen Haare anschließend mit einem Band zusammen und nagelte sie an die Haustür des Mannes.
»Es war sowieso zu lang. Es war mir nur im Weg.«
»Aber du siehst aus wie Jeanne d’Arc!«, sagt Coco bewundernd.
»Ich weiß, und genau so werde ich mich von jetzt an auch verhalten.«
Coco ist wie elektrisiert von der Reaktion, die Caryathis bei der hereinströmenden Menge auslöst. Die Blickrichtung der meisten Operngläser weist sie als den Fokus von tausend Augen aus. Coco, die neben ihr sitzt, sonnt sich in der Aufmerksamkeit. Sie weiß, dass sie beide etwas Skandalöses umgibt. Schnell erkennt sie, welchen Eindruck sie auf die Menschen ringsum machen.
Auf ihrer anderen Seite kommt sich Dullin jetzt schon überflüssig vor: ein Nebendarsteller, ein Statist. Sie sollte doch seine Begleiterin sein, und jetzt sieht es allmählich so aus, als sei es umgekehrt.
Coco bittet ihn, ihr Programm zu halten. Sie weiß, dass man sie beobachtet. Und während Caryathis ihr etwas ins Ohr flüstert, fächelt sie sich träge Luft zu und richtet ihre Lorgnette auf das Publikum unter ihr.
Schließlich verklingt das Stimmengewirr zu einem Flüstern. Coco sieht, wie Sergej Diaghilew, der Impresario des Russischen Balletts, unter Beifall in der ersten Reihe Platz
nimmt. Das
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