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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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er nicht überschreiten konnte. Verstockt stand er da, wortlos,
hinter dem Zigarettenrauch sich versteckend, die Augen zu Schlitzen verengend,
so daß ich nicht hineinsehen konnte.
    Der Hund
umkreiste ihn, kam zu mir, zog wieder ab, unruhig.
    Ist es
möglich, daß es der Hund ist, der mir geschickt wurde, und nicht er?
    Du wirst
ihn wohl nie zu sehen bekommen. Ich hätte Dir gern ein Foto geschickt, aber
meine Kamera wurde beim letzten Einbruch mitgenommen. Jedenfalls gehört er
nicht zu den Menschen, die sich gut fotografieren lassen. Ich habe das Bild auf
seiner Kennkarte gesehen. Er sieht aus wie ein Gefangener, den man aus der
Dunkelheit einer Zelle gezerrt, in einen Raum voll blendender Lichter gestoßen,
an eine Wand geschoben und angebrüllt hat, er soll stillstehen. Sein Abbild,
das Ebenbild, ist ihm geraubt worden, gewaltsam genommen worden. Er ist wie
eines von diesen halbmythischen Geschöpfen, die auf Fotografien nur
verschwommen herauskommen, als unscharfe Form, die im Unterholz verschwinden
und Mensch oder Tier sein könnten oder nur eine schlechte Stelle auf der
lichtempfindlichen Schicht: unbewiesen, unbestätigt. Oder die über den Bildrand
verschwinden und hinter der Verschlußkappe einen Arm oder ein Bein oder einen
Hinterkopf zurücklassen.
    »Würden Sie gern mal nach
Amerika fliegen?« fragte ich ihn.
    »Warum?«
    »Um meinen
Brief hinzubringen. Anstatt ihn zur Post zu tragen, könnten Sie ihn persönlich
überbringen: nach Amerika fliegen und zurückfliegen. Wär doch ein Abenteuer.
Besser als mit dem Schiff. Meine Tochter würde Sie abholen und sich um Sie
kümmern. Ich würde vorher das Ticket besorgen. Würden Sie’s tun?«
    Er lächelte
tapfer. Aber manche von meinen Scherzen berühren eine wunde Stelle, ich weiß.
    »Ich mein’s ernst«, sagte
ich.
    In Wahrheit
aber ist es kein ernsthafter Vorschlag. Vercueil mit Haarschnitt, in
Konfektionskleidung, in Deinem Gästezimmer herumtrödelnd, nach einem Drink
gierend, zu schüchtern, um darum zu bitten; und Du im Nebenzimmer, die Kinder
schlafen, Dein Mann schläft, und Du über diesem Brief grübelnd, diesem
Geständnis, diesem Wahnsinn – ein unerträglicher Gedanke. Ich brauche das
nicht, sagst Du Dir mit zusammengebissenen Zähnen: Ich bin
hierhergekommen, um dem zu entgehen, warum muß es mir folgen?
    Und ich, in
der mir durch die Finger rinnenden Zeit, bin flüchtig die Fotos durchgegangen,
die Du mir im Laufe der Jahre aus Amerika geschickt hast, habe mir die
Hintergründe angeschaut, all die Dinge, die wohl oder übel in dem Augenblick in
den Sucher kamen, als Du auf den Auslöser drücktest. Auf dem Bild, das Du von
den zwei Jungen in ihrem Kanu schicktest, wandert mein Auge beispielsweise von
ihren Gesichtern zu der gekräuselten Fläche des Sees und dem tiefen Grün der
Föhren und dann zurück zu den orangefarbenen Schwimmwesten, die sie anhaben,
wie die Schwimmflügel von früher. Geradezu hypnotisiert bin ich von dem matten
schmeichelnden Glanz ihrer Oberflächen. Gummi oder Plastik oder etwas
dazwischen: irgendeine rauh sich anfühlende Substanz, zäh. Wie kommt es, daß
dieses Material – mir fremd, vielleicht der Menschheit fremd, geformt,
luftdicht versiegelt, aufgeblasen, an die Körper Deiner Kinder geschnürt – für
mich so lebhaft die Welt kennzeichnet, in der Du jetzt lebst; und warum macht
es mich mutlos? Ich habe keine Ahnung. Da aber dieses Schreiben mich immer
wieder von dort, wo ich keine Ahnung habe, zu dem gebracht hat, wo ich zu ahnen
beginne, möchte ich sagen, ganz versuchsweise nur, daß es mich vielleicht
entmutigt, daß Deine Kinder nie ertrinken werden. All diese Seen, all dies
Wasser: ein Land der Seen und Flüsse: doch sollten sie jemals durch irgendein
Mißgeschick aus ihrem Kanu kippen, so werden sie sicher im Wasser hüpfen,
gehalten von ihren leuchtend orangefarbenen Flügeln, bis ein Motorboot kommt,
um sie aufzulesen und davonzutragen, und alles ist wieder gut.
    Ein
Erholungsgebiet nennst Du es auf der Rückseite des Fotos. Der See gezähmt, der
Wald gezähmt, neu benannt.
    Du sagst,
Du willst keine Kinder mehr haben. Die Linie läuft also in diesen zwei Jungen
aus, Saat, in amerikanische Schneemassen gelegt, und nie werden sie ertrinken,
deren Lebenserwartung, mit steigender Tendenz, fünfundsiebzig ist. Aber auch
ich, die ich an Gestaden lebe, wo das Wasser erwachsene Männer schluckt, wo die
Lebenserwartung jedes Jahr zurückgeht, habe einen Tod ohne Erleuchtung. Worauf
können diese zwei

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