Ihre Leidenschaft
H ÉLÈNE LÄCHELTE den selbstgefälligen Mann an, der sie schon den ganzen Abend langweilte, strich nachdenklich mit dem Finger über den Glasrand, überlegte kurz, ob sie aufstehen und zur Toilette gehen oder den Journalisten rechts neben ihr fragen sollte, was er von Online-Zeitungen hielt. Aber sie wusste schon, was er von Online-Zeitungen hielt. Nichts. Nichts. Nichts. Sie wusste schon, dass er Amerika als Beispiel heranziehen würde: »Sogar auf dem Höhepunkt der Überschwemmungen haben sich die Leute in New Orleans ihre Zeitung gekauft.« Fantastisch. Vorbildlich. Die Toilette war hinten links, wo sonst, und sie hatte keine Lust, am Tisch der Messeorganisatoren vorbeizugehen, noch weniger am Sponsorentisch.
Der langweilige und selbstgefällige Mann erwiderte ihr Lächeln und brachte die ganze Runde zum Lachen, als er erklärte, er werde gleich am nächsten Tag auf die Jagd gehen – natürlich auf die Jagd nach Autoren, schließlich waren sie nicht umsonst im November in der Sologne. Das war sehr lustig. Sie bestellten noch mal Cognac, zwei Espressos und koffeinfreien Kaffee, die Frauen begannen zu rauchen. Natürlich sagte jemand »Es ist verrückt, dass so viel mehr Frauen rauchen«, aber niemand traute sich, mit Akupunktur und dem Preis für Nikotinpflaster weiterzumachen, denn es war spät, und das war wirklich zu abgedroschen. Jeder fragte sich, wer die Rechnung zahlen würde. Wem man sie zuerkennen würde. Diese Ehre.
Ihr fiel auf, dass der langweilige und selbstgefällige Mann das Gesicht des Ehrenwerten John aus Disneys Pinocchio hatte, wäre sie Karikaturistin, hätte sie ihn sofort gezeichnet, direkt auf die Papiertischdecke des Lion d’Or. Und wer war die Holzpuppe? Der Dummkopf, der nicht zur Schule geht?
»Wer wohnt im Lion d’Or?«
Die Frage einer rothaarigen Frau mit halb geschlossenen Augen und blassen Lippen, Light-Zigaretten und lackierten Fingernägeln bewegte alle Anwesenden. Das renommierte Hotel, leicht angestaubter Prunk, lag nah beim Stadtzentrum, wo die Messe stattfand. Es gab nur fünfzehn Zimmer, und jedes Jahr war es ein Ratespiel, wem die Ehre gebührte oder wer schnell genug gewesen war, vor den anderen zu reservieren.
»Wisst ihr noch, letztes Jahr, Saint-Martins Exfrau?«
Oh ja! Letztes Jahr, Saint-Martins Exfrau! Sie kannten die Geschichte alle, jeder erzählte sie auf seine Weise, je nach Umständen und Zuhörern, keiner wusste mehr, wer wirklich dabei gewesen war, unwichtig, alle hatten das Gefühl, die Katastrophe miterlebt zu haben. Sie bestellten noch mal zwei Cognac und einen Kräutertee – das Lachen wurde noch lauter »Kräutertee! Unglaublich!« –, jetzt würden doch alle in die Nachtbar gehen, die berühmte kleine, erbärmliche Nachtbar, in der man sich so gut amüsierte, wirklich, die Provinz an einem Freitagabend, geradezu rührend, »ein Ehebruch in der Provinz muss entsetzlich sein«, sagte die Biografin von Elvis Presley, und wieder dachten alle an Saint-Martins Exfrau und lachten.
Sie hätte auch gern einen Kräutertee gehabt, es wäre schrecklich gewesen, wenn sie sich getraut hätte, einen zu bestellen, wie schaffte es der Leitartikler des Point du Jour, den Spott zu ertragen, der seine Bestellung begleitet hatte, wie schaffen es die Leute, so entspannt zu wirken?
Nur die Messeorganisatoren wohnten im Lion d’Or. Unter sich, fein unter sich, wie immer. Das fanden sie gar nicht lustig. Aber eine Hand wäscht die andere, die Werbung für das Vier-Sterne-Hotel unten auf dem Buchmesseprogramm war ihnen nicht entgangen, diese Bevorzugung, diese Privilegien wären früher unmöglich gewesen, die Messe war ein Opfer ihres Erfolgs, so sah es aus, immer mehr Leute, immer mehr Einfluss, immer mehr Geld, aber welcher Autor verkaufte wirklich was? Abgesehen von den Fernsehstars? Nein, es hatte sich verändert, sehr verändert, der Beruf wurde immer schwieriger, die Leute lasen weniger, lebten in einer Bildergesellschaft, die rothaarige Frau mit den blassen Lippen erzählte, dass ihr Sohn Filme aus dem Internet auf seinen Computer lud, die noch nicht mal im Kino waren, der Leitartikler des Point du Jour sagte, dass die Tochter seiner zweiten Frau Musik raubkopierte, jeder musste seine Anekdote erzählen und seine Missbilligung kundtun, die Biografin von Elvis Presley bedauerte voller Bitterkeit, dass das Gesetz über die kostenpflichtige Ausleihe in den Bibliotheken nicht durchgekommen war.
Hélène stockte der Atem. Während alle zeterten
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